zur Zeit nicht belegt

zur Zeit nicht belegt


Dies sind zwei Versionen einer Geschichte.
Sie stehen hier gleichberechtigt nebeneinander und zeigen,
wie Erinnerungen nach 25 Jahren Eigendynamiken entwickeln.
... und irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit.

Walters Version Doktors Version

Manche Menschen lernen sich kennen und niemand weiß hinterher genau, wo das war, zu welchem Anlass dies geschah und welche Menschen dabei waren: es war nicht wichtig genug, um den Speicher des Gehirnes damit zu belasten. Manche Bekanntschaften enden hinterher ebenso - und hinterlassen keinerlei Spuren. Es kommt vor, dass mich Menschen kontaktieren und ich sie nicht zuordnen kann: diese Bits und Bytes sind einfach gelöscht oder unbrauchbar oder - einfach nicht gespeichert. 

Andere Begegnungen hingegen bleiben präsent - bis ans Ende. Und die ganz außergewöhnlichen (so wie diese hier)  erzählt man immer wieder, und sie werden noch schöner und toller als sie sowieso schon sind: sie wachsen. Das erinnert ein wenig an Jägerlatein, wo das alte lahmende Wildschein in der Ferne zu einem wilden angreifenden Riesenkeiler wird. Wobei ich sagen muss, dass diese unsere Geschichte sich genau so zugetragen hat, wie ich sie hier nun erzähle:

Vorspann:
Es war Oktober des Jahres 1978, und es war eine Woche, die es so richtig in sich hatte. Lange schon war geplant, dass in dieser Woche (am 12. Oktober - warum gerade an diesem Datum, zumal mitten in der Woche, weiß heute niemand mehr zu erklären) das 5jährige Bestehen der Walter h.c. Meier Pumpe gefeiert werden sollte. Dazu waren ca. 50 Leute eingeladen, u.a. Ulf Poseé (WDR II), Harry Owens (Veranstalter), Bernd Drescher (heute Radio Essen-Chef), Jochen Kruiper (Galerie Heimershoff), Erwin Weiß (Ruhrgebietsbarde), Theo Windges (Künstler u. Grafiker aus Krefeld) und jede Menge andere interessante Menschen aus dem Dunstkreis der Pumpe. Als wir unseren Hauswirt von unserem Vorhaben  unterrichteten, wurden wir von ihm schriftlich auf die statischen Probleme aufmerksam gemacht, die durch die körperliche Belastung von 50 Menschen auf die Holzbalken des ca. 100 Jahre alten Hauses zukommen würden - und wir beim Tanzen nicht durch gleichmäßige Bewegungen das ganze Bauwerk in Schwingungen versetzen sollten und damit zu einem Einsturz bringen würden - und wir die Verantwortung und...und...und. 
Dann starb am Wochenende vor dieser geplanten Feier Helgas Opa - ein großer Verlust. Was tun: Trauern oder feiern? Denn Trauern und Feiern: geht das? Nach einer langen Familiensitzung entschieden wir uns für Beides; es wäre nicht in Opas Sinne gewesen, dieses Fest zu verschieben. Es wurde also donnerstags bis in den Morgen gefeiert, am Freitagmorgen ging´s dann quasi im Anschluss zur Arbeit. Von dort holte mich Helga dann per Auto zu Opas Beerdigung ab. Unterwegs zum Friedhof  zog ich die mitgebrachten Trauersachen an. Das ging ganz gut -  bis ich beim Schuhanziehen bemerkte, dass ich 2 rechte Schuhe anhatte. Es sah aus, als könnte ich nur linksherum laufen. Wenn wir auf die Schuhe guckten, dann mussten wir - trotz dieses traurigen Anlasses - lachen, bis die Tränen kamen. Also schnell einen Umweg über zuhause, einen Schuh ausgetauscht und ab zum Friedhof, wo wir in gebührender Form von Opa Abschied nahmen.

Im Nachhinein sieht man dann, wie nah Glück und Trauer, Lachen und Weinen, Loslassen und Neues Greifen zusammen liegen, denn genau an diesem Tage - oder besser in der Nacht - nimmt auch die folgende Geschichte ihren Lauf.

Wenn man dann noch bedenkt, dass dieser Tag ein Freitag ist, und der auch noch auf einen dreizehnten (13.) fällt, dann ist das zumindest eine Bemerkung wert, denn nicht alles, was an so einem sogenannten „schwarzen" Tag geschieht, ist negativ. Manches stellt sich im Nachhinein als Positivum dar.
Aber genug der Vorrede - kommen wir nun zu den knallharten facts: 

Hauptspann:
Es ist eine dieser ungemütlichen verdammt schwarzen Nächte. Die Sichel des Mondes streift, von dunklen Wolken verdeckt, den Sternenhimmel und nur manchmal fällt ein leichter Lichtstreifen auf die Frintroper Straße in Essen, wo jetzt um 1 Uhr nachts freiwillig niemand mehr zu sehen ist. Ab und zu huscht ein Auto vorbei, sonst hört man nur das Pfeifen des Windes an den Hausecken und in den Bäumen. Ich bekomme das alles hautnah mit, weil ich mit meinen Hunden noch einmal Gassi um den Häuserblock gehe – dick eingemummelt und in tiefer Vorfreude auf mein warmes Bett zuhause. Die Hunde - das sind Boris, der Schäferhund und Schnüffel, eine original Tierheim-Senfhündin (da hat jeder seinen Senf beigegeben und eine Bestimmung der Rasse ist dadurch unmöglich geworden) – sehen auch so aus, als hätten sie keinen Bock mehr und ziehen gen Heimat, wo ihre kuscheligen Körbchen auf sie warten.

Wir haben unseren Rundgang fast beendet und stehen vor der eisernen Hoftür, die immer so schön quietscht und allen anzeigt, dass sich jemand daran zu schaffen macht, als ein ätzendes Spitzgebell durch die Nacht gellt. Sofort rasen die beiden Hunde laut giftend los und hätten mich mitgeschleift, wenn ich nicht in letzter Sekunde die Hoftür zu fassen bekommen hätte. Mein Arm ist  ausgekugelt, beide Leinen fast gerissen, die Hunde kläffen, in den ersten Fenstern gehn die Lichter an – ich bin hellauf begeistert und zunächst darauf bedacht, die Hunde zu beruhigen. Das gelingt mir nicht, denn das Fremdgebell kommt näher.

Jetzt kann ich auch langsam den Ursprung ausmachen: es ist gar kein Hund. Es nähern sich 2 Gestalten, von denen einer die wunderbare Gabe besitzt, seiner Kehle diese ätzenden Laute entspringen lassen zu können. Diese zwei Gestalten – gestandene Mannsbilder -  tragen zwischen sich ein großes Gestell und kommen langsam und gezielt und unaufhaltsam in meine Richtung, wobei sie versuchen, die gesamte Bürgersteigbreite auszunutzen.

Ich hab keinen Bock auf Diskussion, auf Theater, auf weiteres Hundegekläff und sehe zu, dass ich schnellstens den Hauseingang erreiche: ich sammle die Hunde ein, habe den Hinterhof überquert und stecke gerade den Schlüssel ins Schloss – da hör ich die quietschende Hoftür aufgeh´n: die beiden Gestalten verfolgen mich, sie kommen hinter mir her!

Ich schließe die Haustüre auf und versuche, die sich sträubenden Hunde in den Hausflur zu ziehen. Die wollen natürlich wissen, wer oder was da in ihren Bereich einzudringen versucht und ziehen in die andere Richtung – es ist zum Mäusemelken. Ich zerre, ich ziehe, ich fluche, ich verfluche, ich hab´s fast geschafft, will die Türe schnell zuschlagen – da setzt jemand seinen Schuhfuss in die Tür.

Ich drück von innen, der/die anderen von draußen. Ich guck durch den kleinen noch offenen Türspalt und säusele in der mir eigenen verbindlichen Art: „Hey Chef, watt is los? Was soll das Theater? Soll ich die Hunde wieder raus lassen? Geht nach Hause, Mutti wartet bestimmt schon auf Euch!“ Aber der Chef will nicht gehn. Er sagt - nein er nuschelt - durch den Türspalt und wedelt dabei mit seiner Fahne: „Mutti ist weggefahren. Wir sind ganz alleine. Ey Mann, Freund, Bruder: lass uns rein.“ „Wie rein: zu wem wollt ihr denn?“ „Wir wollen zu Freddy.“ (Dazu muss ich erklären: wir wohnen über einer Kneipe. Und der Wirt dieser Gaststätte heißt tatsächlich Freddy.) Also vielleicht Freunde von Freddy – ich versuche also, mein Gesicht zu einem etwas freundlicheren Ausdruck zu verzerren und öffne den Spalt ein wenig mehr, um zu sehen, wen ich nun tatsächlich vor mir habe: 2 Herren gesetzteren Alters, der eine schon etwas angegraut mit hellem Vollbart, der andere schwarzhaarig, beide gut beleibt, beide Brillenträger, beide gut gekleidet – scheinbar keine Penner. Besonderes Kennzeichnen: der Grauhaarige hat einen Vogelkäfig in der Hand, in dem zwei Wellensittiche - auf den Boden gekauert – mich und meine beiden Hunde im Auge haben: hoffentlich greifen die nicht an...

Zunächst versuche ich den beiden zu erklären, dass der Eingang zur Kneipe vorne an der Straßenfront zu finden und dies hier hinten nur der Eingang für Hausbewohner ist. Nun folgt immer Rede und Gegenrede:  Ja, aber vorne ist schon die Rollade runter gelassen und der Eingang zum Gastraum dadurch blockiert. - Dann ist die Kneipe eben schon geschlossen. - Nein, wir haben doch noch Licht gesehen durch eine Ritze in der Rolllade. – Dann klopft dort an – Haben wir schon, aber der Wirt reagiert nicht – Der will Euch vielleicht gar nicht sehen. – Doch, wenn er wüsste, daß wir hier sind, würde er sich tierisch freuen und sofort aufmachen. Der hört uns sicher nicht: lassen Sie uns doch rein. – "Nein" sage ich jetzt mit fester Stimme und versuche zu erklären warum: "Angenommen, wir würden uns kennen und ich will Sie mitten in der Nacht besuchen und klingle bei Ihnen. Sie wollen mich aber nicht sehen und machen also auch nicht auf und stellen sich Vonzuhauseabwesend. Da ich aber annehme, dass Sie doch zu Hause sind und das Klingeln vielleicht nicht gehört haben, klingele ich bei Ihrem Nachbarn, der mir aufmacht und mich ins Haus lässt. Da steh ich dann vor Ihrer Wohnungstür und randaliere dort weiter...Das fänden Sie doch sicherlich auch nicht so super?"  Sagt der Graumann trocken: „Kann mir nicht passieren - ich wohne im Einfamilienhaus!"

Das sitzt - ich bekomme einen ganz dicken Hals: ich trete auf den Schuhfuss, der noch immer in der Tür steckt, dieser wird auch schnell zurückgezogen, ich klapp die Tür zu und schließ ab, geh wutschnaubend nach oben, weck meine Helga und erzähle ihr diese unglaubliche Geschichte, denn wenn ich die jetzt nicht sofort losgeworden wäre, hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen (und das Einschlafen dauerte auch so noch lange genug...)

Nachspann:
Der nächste Morgen kommt und der Tag geht und ein schöner Abend folgt, an dessen Ende wir uns spontan  entscheiden, noch ein Absackerchen zu uns zu nehmen und den Abend in der Kneipe unter uns mit einem schönen Gläschen Gerstenkaltschale zu beschließen - und wir begeben uns 30 Stufen hinunter in die Gasträume unserer Hauskneipe (wer kann so was schon vorweisen: eine ganze Kneipe im Haus). Als wir dort nun mit unserem Frischgezapften in der Hand unsere Blicke durch den gut gefüllten Gastraum schweifen lassen – da trifft mich doch der Blitz: meine Brille beschlägt, die Hand mit dem gefüllten Bierglas beginnt zu beben. Ich trinke erst mal schnell ein Schlückchen ab, damit nichts verkleckert, und flüstere leise meiner Frau ins Ohr: „Du, da, guck mal gleich – aber ganz unauffällig - an die Thekenecke dort hinten. Ich glaub, das ist einer derer von gestern Nacht – Du weißt schon: der Beller!“

Bevor meine Helga überhaupt gucken kann, fühle ich die Augen des „Fremden“ über mein Anlitz gleiten – und ich sehe Erstaunen über sein bärtiges Gesicht huschen. Er steht auf, bahnt sich mit seinem alles überragenden Körper den Weg durch die Kneipe und kommt auf mich zu. „Hallo“, sagt er „ist es möglich, dass wir uns gestern kennen gelernt haben?“ Kennen gelernt ist gut!!! Ich antworte höflich „Ja, gut möglich: es war zwar dunkel, aber ich glaub, das waren Sie an der Hintertür“. „Dann hätte ich da eine Frage, die mein Herz quält - und mit einer entsprechenden Antwort können Sie vielleicht etwas Helligkeit in meine verdunkelte Seele bringen: hatte ich meinen Vogelkäfig noch dabei?“ Nun, das kann ich ja nun reinen Gewissens bejahen – doch diese eigentlich doch positive Antwort scheint ihn nicht so recht zu befriedigen. Da ich – durch mein langes Leben psychologisch geschult – merke, dass diesen Mann etwas existenzielles bedrückt, frage ich vorsichtig nach: „Warum fragen Sie?“ (Ich hätte Psychiater werden sollen). Ja, und dann hören wir eine Geschichte, wie wir selten eine gehört haben (und das irre ist: sie ist wahr): Seine Frau ist in Urlaub gefahren und hat ihm aufgetragen, sich während ihrer Abwesenheit um die beiden Wellensittiche zu kümmern. Das hat er sehr ernst genommen und hat diese beiden Vögelchen mit auf seine Kneip(en)kur genommen, auf  dass er sie immer im Auge habe. Nur – irgendwo, irgendwie und irgendwann in der Nacht sind die Vögel wohl flügge geworden und abhanden gekommen, denn als er des morgens (immerhin im eigenen Bett) erwacht, sind die Vögel nicht mehr da. Und nun ist er auf der Suche nach ihnen und dem Ort, wo sie zuletzt gesichtet wurden, um ihren Verbleib vielleicht doch noch festzustellen und die beiden zurück zu bekommen, da ihn ansonsten der geballte Zorn seiner Gattin treffen wird (und der muss wohl ganz furchtbar sein).

Tja, der Mann ist zwar nicht am Boden, aber wir nehmen seine Sorgen sehr ernst - wir spaßen und scherzen, erzählen uns Tiergeschichten (er über seinen Basset und wir über unsere Hunde)  und er ist ist gar nicht so übel wie auf den ersten Blick, wir trinken das eine und das andere zusammen und erzählen und lernen uns kennen und sind uns irgendwann auch gar nicht mehr unsympathisch – und da er sich als Arzt outet und in unserer direkten Nachbarschaft praktiziert und wir als "Tutrocken" (relativ frisch Zugezogene)  doch noch einen in der Gegend und auch sonst und na ja: wir wünschen ihm viel Glück bei der weiteren Suche nach seinen Vögeln und verabschieden uns gegen Morgen mit den gar schon fast freundschaftlich zu nennenden Worten: „Man sieht sich“.

Und wie das Leben manchmal so spielt – 2 Wochen später bin ich schlecht: mich zieht es im Kreuz und damit in die Praxisräume schräg gegenüber zu diesem Doktor, und er erkennt mich und ich ihn - und nach der Untersuchung frage ich ihn natürlich nach dem Fortgang der Geschichte mit seinen Vögeln. Und er erzählt:

Nachdem er wusste, dass er die Vögel in der Kneipe noch hatte, führt ihn sein Weg zu Ede, dem begnadeten Krustenbrotbäcker auf der nächsten Ecke, wo er wohl die letzte Station in besagter Nacht eingelegt hatte, um dort beim Backen zu helfen (?) und das eine oder andere Bierchen zu leeren. Und hier hat er, um Federn in den Brötchen zu vermeiden (was nach Ansicht von Ede die Kundschaft zu falschen Schlüssen bringen könnte) und die Nacht lau war, den Vogelbauer samt Inhalt nach draußen auf den Bürgersteig vor der Bäckerei gestellt - und ihn dort vergessen. Am nächsten Morgen (oder war es gar Mittag) war der Käfig weg. Trotzdem die Straße sehr belebt ist, fanden sich keine Zeugen, die etwas über den Verbleib berichten konnten. Was tun? Der Tag der Rückkehr seiner lieben Frau näherte sich.

Tierheim, Polizei, Feuerwehr: keine Geier gefunden. Letzter Rettungsversuch: eine Suchanzeige in der Zeitung. Nach Durchgabe des Anzeigentextes erfolgte ein Rückruf der Anzeigenannehmerin, ob er bei dem durchgegebenen Text bleiben wolle und ob der wirklich so in Ordnung wäre. JAWOHL: 
„2 Wellensittiche samt Vogelbauer entflogen. Sachdienliche Hinweise an Telefon-Nr. Belohnung".

Am übernächsten Tag erscheint die Anzeige, und gegen 11:00 wird ihm ein Telefonat durchgestellt mit dem Hinweis: eine heiße Spur im Vögelfall. Am anderen Ende der Leitung wird ihm zu verstehen gegeben, dass man dort im Besitze eines Vogelbauers mit 2 Vögeln wäre: er solle Vögel und Käfig beschreiben. Er beschreibt die Vögel (wie will man 2 Wellensittiche beschreiben), aber zum Bauer kann er detaillierte Angaben machen: der habe mehrere Spiegel, da seine Frau zum Luxus neigen würde. Nun, das käme hin und man verabredet, dass der „Finder" die Geier in die Praxis bringt. Nach einer halben Stunde kommt die Sprechstundenhilfe herein gesaust und flüstert ihm ins Ohr: "da ist so ein Penner mit einem Vogelbauer: wir haben den sofort ins  Untersuchungszimmer 2 gesteckt, damit den hier keiner sieht und die anderen Patienten nicht abgeschreckt werden."

Der Obdachlose erzählt auf Nachfrage, er habe den Vogelbauer im Schlosspark gefunden, wo er mit dem lebenden Inhalt bei Mondenschein auf einer Bank gestanden hätten, und aus Mitleid - und weil die beiden so alleine und er auch und die Nacht so dunkel und sie alle 3 doch dann nicht mehr alleine... habe er sie zu sich genommen. Egal, ob die Geschichte nun stimmte oder nicht: die Vögel waren wieder da. 20 DM wechselten den Besitzer (und was sind schon DM 20 gegen einen lebenslänglichen Bannstrahl einer verbitterten Ehefrau), der Tippelbruder wurde über den Hintereingang entsorgt  und die Welt hatte ihren Mittelpunkt wiedergefunden und kam wieder zur Ruhe.

Ja, das ist die ganze Geschichte. Geschrieben mit dem Füllfederhalter der Wahrheit: meiner Wahrheit. Und ich lasse diese meine Geschichte auch von meiner Frau Helga gegenlesen, denn die war bei einigen Aktionen ja direkt dabei bzw. ist stehenden Fußes immer direkt informiert worden über den jeweiligen Stand der Dinge.

Und als wir eben, wie wir es nach dem Essen eigentlich immer zu tun pflegen, bei einem Gläschen noch zusammen sitzen und die Geschehnisse des Tages Revue passieren lassen und ich erzähle, dass ich an dieser Geschichte sitze und die jetzt zu Ende schreiben will, da kommen diese Erinnerungen auch noch einmal bei ihr hoch. Und wir stellen übereinstimmend fest, dass aus dieser Begebenheit, die nicht gesteuert oder forciert war von irgendeiner Stelle (es sei denn von ganz oben!) sich eine tiefe Freundschaft und Verbundenheit in einer Art und Weise entwickelt hat zwischen beiden Familien, übergegriffen hat auf Eltern und Kinder, wie es schöner nicht sein kann.

Beispiele: 
• unsere Eltern (Jürgens beide und Mutter meine, jeweils 94 Jahre alt) besuchen zusammen ein Konzert von mir.
• wir Väter gehen über Jahre zusammen mit unseren Kindern und deren Freunden jeden Freitag Squash spielen
• Sven (Sohn Dr.) und Thomas (Sohn meiniger) studieren zusammen, firmieren zusammen und gehen nebenher zusammenarbeiten (und sind nicht schwul)
• und diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Nein, diese Nacht möchte ich nie missen und sage Danke - auch an Castro, Jürgens Zeugen und Helga, meine Zeugin..

Ich sehe gerade: trotz engerer Spalte (?) ist meine Geschichte immer noch kürzer - aber Dr. Jürgen Remy ist eben auch geübter im Schreiben (Rezepte und so). Ich will jetzt auch nicht die Sache mit der Q & Q zur Sprache bringen, aber schließen mit dem Satz:

Freundschaft ist doch was Tolles.       

Wenn man alles genau wüsste, wäre Wahrheit keine Schande. Doch unser Hirn bastelt aus kleinen Puzzelteilchen ganze, lange Würmer, die in den Windungen Spuren hinterlassen und vergilben und mit Farbe neu bestrichen zu Variationen der einstigen wahren Geschichte wieder ganz frisch wirken.
Nun aus gleichsam doppeltem Gesichtswinkel die eigentliche Geiergeschichte, die einfach wahr ist, weil sie geschehen ist. Und da das Thema schon hinreißend ist, muss die Geschichte darüber schon eine besondere Würze bekommen.

Personen auf Seite a) zwei Mann, sozusagen bereits Freunde, zwischen ihnen ein Vogelbauer (-käfig) mit zwei Wellensittichen, der eine blauweiß, der andere grüngelb, einer männlich und eine(r) weiblich (die so genannten Geier), aber das tut nichts zur Sache.

Personen auf Seite b) ein Mann, sozusagen an dieser Stelle noch ohne Freund, dafür aber neben, vor oder hinter ihm zwei Hunde, beide groß, aber der eine kleiner, somit der andere größer als der eine, der auch wieder der andere sein könnte. Das Sein so betrachtet, könnte verwirrend sein, aber diese Geschichte wird die Lösung bringen.

Vorspann:
Es war Oktober des Jahres 1977 oder besser 1978 (1979 hat Castro nämlich zum Dr.med. promoviert). (Im Herbst dieses Jahres 2003 haben wir also Silberjubiläum.) Es war Freitag. Es begann somit ein Wochenende. Meine Frau (Elke) war mit unseren beiden Kindern (Knaben) und Sir Henry, unserem Hund (einem Bassett) in die Herbstferien nach Sylt gestartet, um meinen dort urlaubenden Eltern eine Woche angenehmste Unterhaltung zu bieten. Sie fuhren in unserem damals gerade 10 Jahre alt gewordenen MB 280 SE Cabrio (dunkelgruen, 7. Hand) und sind auch angekommen.

Mich ließ man allein, weil ich schon einige Jahre selbständig war, was mein Verhalten und meinen Beruf anbetrifft. Dieser war von Grund auf sehr medizinisch, ich praktizierte in 3. Generation an gleichem Ort in der Frintroperstr. 42 in Essen- Borbeck. Seit 3 Jahren hatte ich einen Partner und schickte deshalb meinen Vater öfter in Urlaub. Da ich an gleicher Stelle auch mein bisheriges Leben verbracht hatte, waren mit mir auch einige Typen herangewachsen, die diesem kleinen Areal in dieser Welt eine besondere Note verliehen. Dass dazu auch mindestens eine Kneipe gehört, gehört sich so und wäre ohne diese auch kaum interessant oder erwähnenswert.

Also es war Freitag, das Wochenende drohte, es war „sturmfrei". Den ganzen Tag über hatte ich nichts Besseres zu tun, als nachzudenken, wie man denn wohl dieses Wochenende angenehm zerlegen könnte. Nichts ist deshalb nahe liegender als einen guten Freund auf die Autobahn zu locken, um einem behilflich zu sein. Dieser Freund (irgendeiner hat mal begonnen ihn Castro zu nennen) bastelte in Würzburg in der Anatomie an seiner Doktorarbeit. Sonst begeistert über jeden Anruf und jede Untat, war er an diesem Tag eher kleinlaut, was sich bald erklärte, weil nämlich Herr Professor mit dem Finger über das Okular des Mikroskops gewischt hatte und mit grauen Spuren an den Fingern meckerte, Herr Klehn, da haben sie wohl länger nicht dran gearbeitet. Dieser gute Freund war dadurch einfach eingeschüchtert und bedurfte weiterer Drohungen. Diese bestanden in der Bemerkung, unsere Freundschaft gerät in Gefahr, wenn Du nicht sofort ins Auto steigst und die 350 km hinter dich bringst. Er war also pünktlich vor Ort. Wir begrüßten uns herzlich. Wir waren beide sicher, dass unser Wochenende außergewöhnlich wurde, weil das immer so war, so waren wir eben sicher.

Nach einem unbedeutenden Abendimbiss steuerten wir gegen 20.00 meine Sauna im Keller meines Arzthauses an, die freitags immer für Freunde geöffnet war. Dass diese kamen, war auch sicher. Wie immer war auch für mich ein bildschönes Mädchen dabei, das aber nur mit vorgehaltener Hand meine Schwüre der Bewunderung einatmen konnte. Der Saunaabend verlief ohne Komplikationen und schloss gegen 23.00. Man verabschiedete sich. Castro und ich durchschritten mit leichtem Handtuch in tief schwarzer Nacht unseren Garten, um unser Wohnhaus zu finden. Dies gelang uns ungebrochenen Mutes.

Hauptspann:
Nach Betreten meiner Wohnung drohte uns einfältige Langeweile zu berühren. Aber das war nicht von langer Dauer. Der Blick auf die Uhr überzeugte uns, dass die Zeit für noch das ein oder andere Hopfengedeck angemessen sei. Also bestiegen wir unsere Kleider und fassten in der Küche den Plan, das Haus wieder zu verlassen und die eine von den vielen netten Kneipen anzusteuern. Aber nun dauerten uns die beiden Geier auf dem Tisch, für deren Wohlergehen meine Frau vor der Abreise inständig gebeten hatte: "pass bitte schön auf m e i n e Tierchen auf!" Wo könnte uns solches besser gelingen als auf einem späten Ausflug in die „kleine Welt". Wir hatten es ja nicht weit, husch über die Straße, und schon waren wir am Ziel unseres Begehrens.

Diese Kneipe, das „Schönebecker Eck", Frintroperstr. 25, ist ein Gasthaus mit etwa 100 Jahre Geschichte, das ist im Ruhrgebiet schon sehr viel. Der Baustil verrät das Alter, damals wurde noch an den Außenwänden mit sehr viel Stuck gearbeitet, die ganze Straße muss einmal so bebaut gewesen sein. Der Krieg hat vieles zerrissen, nur einige wenige Kleinode haben ihn überstanden. Auch mein Eltern- und gleichzeitig Großelternhaus hat einmal so ausgesehen. Was der Krieg damals nicht geschafft hat, hat dann die Bauwut der Städte in den späten 60-ger Jahren umgepflügt, weil doch die Straße zu schmal sei. Nun, die kommt auch heute noch mit der alten Breite aus, so dass ich auch im Vollrausch nicht nach neuen Maßstäben kramen muss, wenn ich sie überqueren will oder muss.

Die Eingangstür auf der Vorderseite war bereits geschlossen, durch die Rollladen konnte man noch Licht erspähen, so dass unser Vorhaben nicht abgebrochen werden musste. Ich kannte ja die Seitentür, die auch schon sonst einmal eher dem Verlassen der Kneipe gedient hatte. Die war nun zu. Klopfen brachte nichts, denn im Schankraum, den mein Freund und Kegelbruder Freddy besorgte, war es wohl so laut, dass unser Geräusch eher unterging. Guter Rat ist teuer. Aber manchmal hilft der Zufall. Dieser öffnete dann auch nach einer Weile, die dem Wartenden immer länger erscheint, als sie ist, in Form eines mir bis dato nicht bekannten, kleinen Mannes. Dieser kleine Mann war nicht sehr groß, aber trug einen Vollrauschebart, der eben angraute. Er war fast sehr bekleidet und war von zwei Hunden umgeben, die uns ob unseres Erscheinungsbildes genauso ungläubig aber umso eindringlicher beäugten wie er, da sie gewohnt waren, ihr Haus ungestört durch dieses Portal zu verlassen, wie auch ich es gewohnt war, dass diese Tür nur mir zu unzeitiger Stunde mit Freuden geöffnet wurde. Das war wohl heute mal etwas anders. Den gerechten Sinn in der Überzeugung, dass wir alle rechtens handelten, ging keiner dem anderen aus dem Weg. Bevor Fäuste im Dunkeln aufeinanderprallen, ist es guter Brauch, der Dialektik freien Lauf zu lassen. So auch nun. Viele Vergleiche und Beteuerungen wurden gegenseitig auf den Weg gelassen, aber nichts überzeugte. Rhetorische als auch physische Übermacht drohten immer wieder den Weg alles Irdischen zu gehen. Als dann gar nichts half, den Eintritt zu erlangen, musste die verbale Keule angesetzt werden. Diese saß! „Wenn Sie nicht Besitzer eines Eigenheims sind sondern nur Mieter einer billigen Wohnung über einer Kneipe, sind Sie für mich kein Gesprächspartner!" Die Tür war auf, wir betraten erfreut den Kneipraum, der uns mit seinen typischen Gerüchen und Geräuschen auch gleich in Besitz nahm. Wundern tat sich das mir im Wesentlichen bekannte Dauerpublikum nur etwas über meine Begleitung, nicht den Freund Castro, der nicht gerade groß ist – den kannte man schon aus derben Vortragen -, nein über die Geier und ihr Haus aus goldähnlichem Drahtgeflecht, rund wie der Erdball, und da, wo sonst die Längs- und Breitengrade sind, waren hier die goldähnlichen Drähte. Auch ein Wasserbecken im Vogelbauer war noch halb gefüllt und die beiden Spiegel waren auch noch klar, sie finden im Nachspann noch ihre Bedeutung und Erklärung.

Schnell erreichten uns die ersten Hopfenkaltschalen der Marke Stauder, die dem Saunanachbrand den Löschansatz lieferten. Die Geier waren still, denn sie waren ja bei mir, dem Auftrag meiner Frau Elke folgend. Sie standen nebst Behausung auf einem Tisch und äugten dem unbekannten Spiel.

Die Gedanken wollten mich nicht verlassen, dass meine kaum verflossenen Worte wohl einem noch Fremden wehgetan haben könnten, als sich schon bald die Tür öffnete, und eben dieser Mann die Kneipe betrat. Da dieser Schritt wohl zu seinen Gewohnheiten gehörte, musste dieser Tatbestand erst einmal auf Richtigkeit überprüft werden. Zudem war auch sein Stimmungsbild abzutasten. Er hätte ja, wie schon angedeutet, etwas stinkig sein können.

In solchen Situationen ist immer wieder die Spende eines Gemäßes sehr hilfreich. Schauen, wie es angenommen wird. Wird dann noch der Zutrunk bei nicht Ablehnen des Gemäßes auch über diagonalste Entfernung erwidert, ist man schon etwas sicher. Aber eben noch nicht ganz. Erst ein 2. Gemäß wird richtungweisend. Und diesen wahnsinnigen Versuch haben wir unternommen und durften nun den Abend als gelungen erkennen. Nun näherten wir uns, wir vormaligen Kontrahenten und outeten uns gegenseitig. Dieses Procedere war sehr nachhaltig, da wir doch noch nicht wissen konnten, dass wir mit diesem Akt den Grundstein für eine dauerhafte Freundschaft gelegt hatten. In diesem Punkt sind nun beide Berichte über das Erlebte und das Nachherein völlig unisonor. Dass die Nacht damals noch ihren weiteren Fortgang hatte, wird jeder zu glauben bereit sein, das soll aber der Nachspann berichten. 

Nachspann:
Die Kneipe verließen Castro, die Geier nebst Käfig und ich gegen 4.00 in der Früh. Nur die Straßenlaternen gaben Licht, die Geier haben kurzfristig tief durchatmen können, denn soviel Rauch hatten sie noch nie erlebt, wir hatten zu Hause schon mal kurz Besuch von Rauchern. Nun, wer Hobbys hat, der hat sie auch des Nachts.

Eins meiner größten Hobbys war Freitagnacht meine Freunde, die Bäcker, zu besuchen, weil die dann schon arbeiteten. Manche freuten sich, Jahre später haben sie große Eisentore fertigen lassen, um sich gegen mein Hobby zur Wehr zu setzen. Aber damals freuten sie sich eben noch.

Also gingen wir zu Ede, eben an der gleichen Straße, Nr. 47, in seine Backstube. Ede nannte sich schon damals Großbäcker, weil seine Nachbarn kleiner waren, Backstube oder Brötchen oder so. Wir durften, weil wir eben noch gerne gesehen waren, auch helfen. So sahen wir bald so weiß aus wie seine Gesellen, die sich auch freuen konnten, vor allem, wenn wir noch etwas Trinkbares bei uns hatten. Wir hatten meistens, man kennt ja die Bedürfnisse des anderen, das sind besondere Fähigkeiten bei Arbeitsmedizinern. Also kneteten wir im Teich und gaben die Portionen auf die Waage. Die Geier im Bauer standen auf dem Boden. Sie hatten die Bemehlung, die uns ebenso zufällig traf, wie sie, nicht so gerne. Also nutzten sie ihre Flügel, um den Ballast abzuschütteln. Irgendwann maulte dann ein Geselle: „Boh, wenn morgen ein Kunde Vogelfedern im Brötchen findet, dann wird et im Umfeld ganz schön stinken." Was blieb mir anders übrig, die Stellung zu halten, als Castro zu bitten, die Geier aus dem Gefechtsbereich zu befördern. Ich dachte, er hätte den kurzen Weg nach Hause nicht gescheut, aber er nahm den noch kürzeren und stellte sie vor den Eingang des Geschäfts von Ede, also vor das Haus.

Nach Abschluss unserer Hauptarbeitszeit in der Backstube, wählten wir den Heimweg. Im Ehebett angekommen, bemerkten wir, dass wir die Geier vergessen hatten. Noch mal in die Hosen zu steigen, war zu mühsam und auch nicht gerade produktiv, also nahmen wir uns vorab den Schlaf.

Castro hat wohl ohne innere Uhr geschlafen, denn er sprang schon kurz nach Sonnenaufgang, gegen 11.30 aus den Federn, um nach dem Federvieh Ausschau zu halten. Ich habe mich noch mal auf die andere Seite gedreht, wurde dann aber auch wach, als er nach 5 Stunden noch nicht wieder eingetroffen war. Sollte es so sein, dass die lieben Tierchen weggeflogen sein könnten oder gar bösen Buben gefolgt sein könnten. Die Tiefsinnigkeit war nicht aus zu malen, die mich ergriff. (Phase 1)

Irgendwann kam Castro zurück, sehr traurig, denn alle Bekannten, die er an diesem Tag im Umkreis von Sittichflugstunden aufgesucht hatte, waren sprachlos und entschlossen, durch heftiges Kundtun des Ereignisses für seine verbale Verbreitung zu sorgen. Bevor mich Phase 2 erfasste, haben wir den Samstagabend gediegen begangen. Die Trauer über den Verlust kam aber noch nicht zum richtigen Höhepunkt. Das gelang Castro erst mit seinem Abschied am Sonntagmittag. In der nun erlebten Einsamkeit beschlichen mich Endsinne (eigentliche Phase 2). Frauen können in ihrem mangelnden Verständnis für Männertaten sehr grausam sein. Sie verabscheuen den Krieg, aber sie entfachen ihn. Das Hirn fetzt, es holt aus, es stößt an die Hülle, die Augen werden dadurch wackelig, auch schon mal feucht. Aber Humor ist in solchen Fällen eher unsinnig, zumindest wenig hilfreich. Ach ja, Hilfe findet man bei der Telefonseelsorge in Form der Schwiegermutter. Das ist, wenn sie richtig ist, und das war sie, die beste Lösung. Weil sie einen besser kennt als die eigene Tochter und auch viel einsichtiger ist als dieselbe, erwartet man eben verständiges Gehör. So war es dann auch anfänglich. Ihr guter Ratschlag, geh doch zu Karstadt und kauf zwei neue Geier, reichte mir nicht, weil ich doch wusste, für diesen dämlichen Käfig, ein Erbstück geringeren Wertes meiner lieben Großeltern, gab es keinen Klon. Also blieb mir keine andere Wahl, Elke ein wenig den Verlust zu beichten. Was meine Schwiegermutter zu der Äußerung veranlasste: „na bitte, wenn Du lebensmüde bist!"

Nun saß ich so in meinem Sessel, ganz allein, Angst machte mich nieder, Angstschweiß benetzte meine Glieder, bis auf eins, auch das war weg.

Nun gut, ich rief zu mir, sei ein Mann und hör auf mit dem Gezeter und gehe in den Krieg.

Ich griff zum Hörer, wählte die Vorwahl, verwählte mich nicht, wählte die eigentliche Anschlussnummer. Eine noch glückliche Stimme entbot mir den Gruß. Doch dann, nach meinen ersten Worten brach das Unwetter los. Grausam, verächtlich, Tierschinder, die Worte überschlugen sich und begruben mich. Ich hörte nur noch Polizei, Tierschutzverein, Anzeige in der WAZ (Phase 3). Ich war nach dem Auflegen wie erlöst und sogleich gehorsam, die Polizei hatte nichts gesehen, der Tierschutzverein fühlte sich auch kaum zuständig. Es musste Montag werden. Und es ward. Zurück an meinem Schreibtisch ging ich meiner Aufgabe nach und behandelte meine Patienten und auch die von meinem Partner, der auch die Herbstferien genoss. Also Ablenkung war reichlich gegeben, meine Damen (so nannte ich meine Helferinnen) waren sehr lieb zu mir, denn sie hatten schon am Wochenende mein Missgeschick genüsslich eingesogen. Die erste Pause ließ mich den Hörer vom Telefon abheben. „Hier ist die Anzeigenannahme der WAZ Essen", „hier ist – ja hier ist", ich nannte meinen Namen. Ich gab die Anzeige auf: "Zwei Sittiche nebst Käfig Nähe Fliegenbusch (d.i. ein Verkehrsknotenpunkt direkt nebenbei) verloren. Telfonnummer:…". Danke, auf Wiederhören. Das geschah nach zwei Minuten. Die ungläubige WAZ- Angestellte wollte meinen Text nicht verstehen. Brauchte sie doch auch nicht, sie sollte ihn doch nur drucken lassen.

Also am Dienstag stand die Anzeige in der Zeitung. Ich arbeitete wieder sehr freundlich und friedlich, im Nacken immer noch dieses komische Gefühl (Phase 1-3), einige nennen so was ein schlechtes Gewissen. Ich kannte das bisher nicht, so glaubte ich ihnen.

10.30. Meine Damen stellten mir ein Gespräch durch. „Hier ist Herr Walpurgis, Sie haben da eine Anzeige in der Zeitung." Ich kannte den Herrn Walpurgis noch nicht, war es doch ein sehr schöner, zur Situation fast passender Name, so ein bisschen Goethe, wie wohltuend bei der Faust im Nacken.

Unser Gespräch zog sich etwas hin, denn er wollte genau wissen, wie die Tierchen aussähen, auch den Käfig ließ er sich exakt beschreiben – bis hin zu den beiden Spiegeln – denn meine Frau neige zum Luxus, tat ich ihm vorfreudig kund.

Nachdem ich ihm seine Wohnadresse abgeschnüffelt hatte, wusste ich, dass er in einem Obdachlosenheim in der Nachbarschaft wohnte, und auch, dass diese Klientel bei meinem Partner versorgt wurde. Da die meisten von ihnen unter Bewährung standen, wirkten meine Vorwürfe Wunder. Die Geier waren binnen 20 Minuten wohlbehalten wieder bei mir. Sie boten keine Zeichen einer Belästigung und waren auch nicht exsicciert, denn Herr Walpurgis – ein hoch gewachsener, sehr dünner Vertreter seines Geschlechtes wie auch sein Begleiter, das glatte Gegenstück, ein kleiner Dicker hatten den Tierchen wohl regelmäßig Körnchen und andere Flüssigkeit angeboten. Getreu dem Wahlspruch: Vögeln sollst Du stündlich frisches Wasser geben.

Wir wurden mit einem Zwanni (gebietsübliche Bezeichnung für einen Schein der 20,- DM Güte) schnell handelseinig, und sie verabschiedeten sich gebührend, hatte doch ihr nächtlicher Spaziergang und die Lüge, sie hätten die Tiere im Schlosspark gefunden, einen lohnenden Abschluss ohne negativen Nachgeschmack gefunden.

Ich legte mein Haupt auf meinen Schreibtisch, betrachtete den Käfig nebst Inhalt und habe laut für sehr lange Minuten gelacht. Dann griff ich zum Telefon und erreichte meinen Vater auf Sylt. Auf meine Bemerkung „Entwarnung" rasselte es wieder Unverständnis. Wenn er mich zu fassen kriegen könnte, wären Handgreiflichkeiten nicht von der Hand zu weisen, denn meine Frau hätte ihm drei Tage seines Lebens gestohlen.

Hier in Essen, sozusagen zu Hause, bei meinen alten und besonders meinen neuen Freunden wurde das ganz anders gesehen. Ja sogar so nachhaltig, dass diese Geschichte einfach Innbegriff einer Kontaktsuche und -findung geworden ist.

Die Jahre haben der Geschichte Glanz und Glimmer verliehen. Heute lachen und witzeln alle Beteiligten über das Erlebte. Selbst Castro hat damals seine Promotion mit bestem Erfolg durchstanden. Und auch aus dem von Elke angedrohten Hausverbot ist dank meiner hartnäckigen Intervention nichts geworden. (Was geworden wäre, wenn die Geschichte anders ausgegangen wäre, ist kaum zu sagen, sie hätte wohlmöglich auch die mir angedrohte Scheidung umgesetzt).

Und Walter Westrupp bringt die Wahnsinnsgeschichte in sein Buch, und ich in meins, weil wir doch unsere Versionen nur abgleichen wollten.

Freundschaft ist doch was Tolles.

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