Am Anfang war nichts als Brösel
Da teilte man den Brösel
Dann ging man daran, Gräser, Kräuter, Stecklinge, Und man machte zwei Lichter:
Und man sprach: er wimmle das Gebrösel Und man sagte: lasset uns ein Ding machen
Als man dann ansah, was man aus dem Brösel geschaffen hatte
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iele Bereiche der damaligen 68er-Bewegung sind mittlerweile von Experten und Außenstehenden gebührend beschrieben, verrissen, gewürdigt worden. Gleichermaßen wurde die damalige Musikbewegung in vielen Veröffentlichungen durchleuchtet und rezensiert, denn diese Zeit öffnete auch musikalisch neue Horizonte. Die Internationalen Essener Songtage 68 in Essen zeigten dies in plakativer Art einer breiten Öffentlichkeit, und im Untergrund trieb die Subkultur den Zeiger der musikalischen (und damit verbunden auch textlichen) Bandbreite in nie gekannte Kreativ-Bereiche. Wir warfen die Fesseln des etablierten musikalischen Kulturgutes ab und betraten Neuland – jeder auf seine Art und Weise. |
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Engagierte Liedermacher wie Franz-Joseph Degenhard und Dieter Süverkrüp, auch Gruppen wie Ton Steine Scherben und Floh de Cologne gaben vielen Bewegungen musikalischen Rückhalt, Nonsens-Gruppen wie Insterburg & Co fabrizierten echte Comedy (damals gab es diesen Begriff noch nicht), Theater- und Agitatoren- Gruppen wie First Vienna Working Group mischten nicht nur das beschauliche Waldeck-Festival auf. Und in der Pop-Szene waren Gruppen wie Amon Düül, Embryo, Guru Guru, Tangerine Dream, Annexus Quam, Bröselmaschine, Emtidi, Hölderlin, Wallenstein, Birth Control, Ashra Tempel, Xhol, Can und viele andere mehr plötzlich tonangebend. |
Ein Wort vorab zu W&W: was in all das, was wir so veranstaltet haben, hinein interpretiert wurde, war teilweise echt abenteuerlich. Wir haben uns verwirklicht durch Aktionen, durch Musik, haben lediglich unser direktes Umfeld umgestaltet - und andere glaubten darin Dinge zu sehen, an die wir selbst im Traum nicht dachten. Wenn wir tatsächlich etwas bewegt haben, dann soll wirklich niemand glauben, dass wir es getan haben, um etwas zu bewirken. | Bild aus einer Fernsehprogrammzeitschrift, in denen wir des Öfteren abgelichtet auftauchen |
ir waren keine Missionare - schon gar keine Revolutionäre - wir wussten aber sehr wohl, was wir NICHT sein wollten: angepasst, bieder, spießig, kleinkariert, konform. Es befriedigte uns, zu tun, auf das wir Bock hatten, was uns selber Spaß bereitete - und haben damit natürlich provoziert. |
Wir lebten als kleine Gruppe in einer Parallelwelt - um uns herum erklommen Roy Black und Heintje die Hitlisten, Heinrich Lübke war Präsident, Heinz Schenk übernahm den Blauen Bock und Hans Rosenthal trieb das alles auf die Spitze. Und wir - mittendrin - waren junge Menschen, die sich von verstaubten Vorstellungen der Eltern, dem Establishment, der Politik und ausgetretenen Pfaden entfernten - die locker, flockig und mit viel Spaß in den Backen einen eigenen Weg gingen mitten durch eine Wirtschaftwunderwelt zwischen Wiederaufbau und Protest. Daher soll so ein Leben nicht ein Außenstehender beschreiben, der sich an Interpretationen versucht, sondern jemand, der es auch gelebt hat. Dieser Aufgabe stelle ich mich hier sehr gerne und gehe dieses Vorhaben frohen Mutes an – Autodidakt in Erlebnisaufschreibungen - und zwar mit einem
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MUSIK
- GEGENKULTUR IN DEN 68ern
DIE KRAUTROCK-SCHUBLADE
ass ich überhaupt den Mut fand und irgendwann tatsächlich mit dem Schreiben begann, ist eine Story in dieser Entstehungsgeschichte, die so direkt zwar gar nichts mit W&W und der Zeit damals zu tun hat, die dieses Online-Machwerk aber letztendlich ins www brachte. Ich traf vor langer Zeit (mehr als 40 Jahre) in einer elend dunklen Vollmond-Nacht auf einen Mann - er war mit den zwei Kanarienvögeln seiner Frau und einem Kumpel unterwegs und ich auf Gassigang mit meinen beiden Hunden: eine dubiose, total obskure Begegnung, die wir - jeder für sich - in zwei gegenüber gestellte Erzählungen auf einer separaten Seite festgehalten haben
Also, dieser Mensch ist ein Dr. med. (er wurde auch im richtigen Leben mein Doktor) und ich nenne ihn der Einfachheit halber Dr. Jürgen Remy alias Doc, der leider 2022 von uns gegangen ist. Er war mein Freund, auch der Freund meiner Frau (was die geneigte Leserschaft hoffentlich nicht stört – mich jedenfalls nicht) und er war auch Freund, Förderer und Partner meines Sohnes, mit dem er in den neuen Technologien praktizierte (Hardchor und Software): er gehörte zur Familie – samt seiner Frau und seinen Söhnen und den Enkelkindern - ein wahrer Freund eben *. nd er ist der Anlass dafür, dass ich bis heute am PC sitze und verzweifelt versuche, Erinnerungsfetzen buchstäblich einzusammeln und schwarz auf weiß (?) in die Tasten zu hauen und auf diesen Seiten zu fixieren. Doc hat - was mich damals bis tief ins Mark traf - eines Tages plötzlich und unerwartet angefangen, (s)ein Buch zu schreiben. Nicht mit Block und Bleistift (das Gekrakel hätte keine Sau lesen können– das hat nicht mal der Apotheker nach 30 Jahren Zusammenarbeit mit seinen Rezepten geschafft - und seine Kartengrüße von unterwegs erfordern ein mindestens 3semestriges Studium der Hieroglyphe). Nein: er schrieb sein Buch auf einem Laptop und hat es nach 2 Jahren Recherche und Verlagssuche etc. veröffentlicht. Seither steht es in gebundener Form in meinem Bücherregal: ätzend & nervend (und ich habe ihm auch noch diesen wunderschönen Buchdeckel gestaltet)... Wie schon gesagt: die Idee zu einem schriftlichen Rückblick auf die Zeit 1967 - 1973 samt dem ganzen wahnsinnigen Drum und Dran schwirrte ja schon seit Urzeiten als nebulöse Wolke durch meine graue Zelle, doch allein bei dem Gedanken an eine Stichwortsammlung bekam ich jedes Mal gefährliche Schnappatmung. Mit Docs Buch ändert sich da etwas, in mir festigt sich der Eindruck: jeder kann doch sowas schaffen, wenn er es nur wirklich will. Ich wollte wollen und entscheide: jetzt oder nie - ich fange einfach mal an. Ja gut, es wird behauptet: wer nicht lesen kann, sollte sich kein Buch kaufen. Aber ich will jetzt lesen lernen: einen Rechner habe ich, einen Scanner ebenso, Musik ist vorhanden und der Wille jetzt auch... |
MUSIK
- GEGENKULTUR IN DEN 68ern
DIE KRAUTROCK-SCHUBLADE
ei einem
allerersten schüchternen Versuch der logistischen
Vorbereitung des Projektes „Mal eben ein paar alte Geschichten aufschreiben“
türmte sich allerdings vor mir ein solcher Berg auf (wie geh ich vor, was ist wichtig, wo bekomme ich Informationen her und überhaupt, darf ich langatmig ausschweifen,
blumenreich umschreiben und von Hölzken auf Stöcksken kommen oder muss ich kurz & knapp
und in komprimierter Form auf den Punkt
zusteuern, damit
der/die hochgeschätzte Leser/in nicht gleich wieder Absolut erschwerend kam hinzu, das unsereiner / meinereiner sich in dem besagten Zeitraum keinerlei Notizen gefertigt oder gar Tagebuch geführt hat. Wir besaßen weder Film- oder Videokamera noch Fotoapparat. Unser Smartphone war ein schwarzes Bakelit-Telefon, unser iPod der Kassettenrecorder. Wenn etwas geschrieben werden musste (Briefe, Texte. Werbung), dann mittels einer antiken Adler-Schreibmaschine - leider hat von alledem so gut wie nichts überlebt. Heute schaut man ins Internet, aber facebook oder YOU TUBE gab es um die Jahrtausendwende noch nicht und wikipedia befand sich erst im Aufbau. |
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Wo könnte etwas Brauchbares zu finden sein? An ein Bündel Zeitungsausschnitte aus der damaligen Zeit konnte ich mich vage erinnern, abgelegt in einem Karton irgendwo auf dem Dachboden. Im Plattenschrank standen sauber aufgereiht alle unsere Singles und LPs und jede Menge Sampler. Die obligatorischen marktschreierischen Waschzettel-Texte der Plattenfirma hatte ich glücklicherweise irgendwann im Verlauf einer meiner seltenen Aufräumaktionen in einem Aktenordner abgeheftet, und in einer großen Metallkiste im Keller voller "Antiquitäten" aus der guten alten Zeit fand ich tatsächlich noch Textbücher, Fotos und weitere verwertbare Unterlagen: ich begann nach und nach allerorten solche Materialien aufzustöbern, zusammenzutragen und zu sichten ... |
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usätzlich schaltete ich die körpereigene Festplatte ein und forstete diese durch: was ist überhaupt noch drauf von damals? Was haben Trips & Träume nicht gelöscht? Was kann evtl. wieder hergestellt werden? Wo ist was abgelegt? Nachts, wenn die Sonne hinter der blanken Sichel des Mondes versank, wenn ich mir vorkam wie ein Wanderer, der nach Pilga meckert und der Holzwurm des Rückschritts auf die Beine kam und mich fragte: „Hallo Chef – bist Du´s: wo hast Du den Brösel versteckt?" und ich nicht einschlafen konnte, weil die Hunde im Traum aufjaulten und die Katzen brummend quer auf meinem Bett lagen, so dass ich meine Beine bis unters Kinn ziehen musste, fielen mir glücklicherweise (trotz meiner im Anfangsstadium befindlichen Arnheimer, aber auch nur, weil ich mich fast ungestört ganz, ganz stark konzentrieren konnte auf eine Zeit, die so lange her war und jedes Jahr noch weiter weg zog) nach und nach alte, fast vergessene und eigentlich verschüttete Erinnerungsfetzen, erzählenswerte Geschichten, erwähnenswerte Begebenheiten und bewegende Begegnungen wieder ein. Ich grübelte über Namen nach (die konnte ich mir noch nie merken) und schlief dann erst recht nicht mehr ein - manchmal nahm aber zumindest eine Person langsam Gestalt an: das Gespenst bekam ein Gesicht – meist wenn die Vögel draußen zu Brüllen anfingen. Es konnte sich aber auch bei einem Konzert, bei einer Party oder einfach in der Stadt auf der Straße oder bei einem Spaziergang ereignen, dass ich angesprochen wurde: "Hey Alter, weißt Du noch..?" Meist wusste ich erst mal gar nix und erinnerte mich an nichts. Manchmal entwickelte sich eine Ahnung, um was und wen es ging, wer da vor mir stand und welches Ereignis hinter ihm: das konnte dann im günstigsten Fall erfreulicherweise zu einem weiteren Beitrag in diesem Manuskript führen... m ja nichts wieder zu vergessen, hielt ich nun - egal, wo ich gerade war - ständig stichwortartige Notizen auf Zigarettenpapier, Bierdeckeln, Tempo- und Brillenputztüchern, unbenutztem Toilettenpapier und sonstigen Papierschnipseln fest, die dann überall in der Wohnung herum flogen: im Bett, am Bett, unterm Bett, am Klo, auf dem Fernseher, an der Bar, in der Werkstatt, auf der Fensterbank, im Garten, in Butterbrotdose und Portemonnaie, im Katzenklo und im Hundekörbchen. Selbst beim Frühsport und beim Hundespaziergang schrieb ich mir plötzlich einfallende Begebenheiten und vorbeifliegende Gedanken auf (für unterwegs hatte ich mir extra kleine Blöcke angeschafft). Einmal pro Woche veranstaltete ich eine Zettelsammlung und heftete alle gefundenen Schnipsel penibel ordentlich übereinander auf einen Bon-Pikser - sah aus wie in einer verdammt gut gehenden Kneipe. Dabei musste ich höllisch aufpassen, mich nicht heillos zu verzettelten (!). Um das zu verhindern, versuchte ich sporadisch - natürlich immer abhängig von aktueller Form (Lust) sowie vorhandener Zeit - die mittels dieser Aktionen gesammelten Informationen in eine zeitliche und logische Reihenfolge zu bringen - falls sie noch zu entziffern waren. Nun wurden die Stichworte in Prosa umgewandelt und an den entsprechenden Stellen - teilweise in schon bestehende Kapitel - eingearbeitet. Abschließend ernannte ich alle auf der Bildfläche neu erschienenen Gestalten zu Darstellern und pflegte sie in die Mitwirkenden-Liste im Anhang ein. |
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- GEGENKULTUR IN DEN 68ern
DIE KRAUTROCK-SCHUBLADE
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ie diversen Zettel vom Bon-Pikser sind mittlerweile (2020) abgearbeitet, jetzt reicht ein zentraler Block auf dem Nachttisch am Bett für das Festhalten von Gedanken, die im Halbschlaf vor meinem inneren Auge vorbeifliegen, völlig aus. Ich finde es schon erstaunlich, was nach all den (jetzt schon über 50) Jahren doch noch hängengeblieben, was nicht total verschüttet war und nach und nach zum Vorschein kam. Beim Durchblättern stelle ich erfreut fest, dass sich eine Menge an Darstellern zusammengefunden hat und der Geschichten immer mehr geworden sind wie das "Nicht-Zusammentreffen" mit Jimi Hendrix beim Love & Peace-Festival auf Fehmarn, meine "Erweckung" bei den "Internationalen Essener Songtagen", die nächtliche "Gummibootfahrt" über den Essener Baldeneysee, die gewaltige "Teebeutel"-Saga, das epochale E-Kaffeemühlenkonzert im JZ Essen sowie die ganze ungeschminkte Wahrheit über die Landflucht nach Dill zu Bauer Plath - und natürlich alles über die W&W-Musikproduktionen mit all dem Drum & Dran. Darüber hinaus füllen auch private Begebenheiten, Begegnungen, Erlebnisse und persönliche Gedanken ungezählte Seiten. Ein solches "Zwischen"-Fazit könnte glatt als zarter Hinweis auf einen nicht mehr allzu fernen Fertigstellungstermin verstanden werden. Ja nee - ich sach ma so: man wird ja mal träumen dürfen. Ich hoffe nach wie vor und immer wieder und glaube ganz fest daran und bin mir da eigentlich auch ziemlich sicher, dass in Zukunft noch die eine oder andere Beachtung verdienende Anekdote oder besondere Begebenheit, die eine Erwähnung inklusive Niederschreibung wert ist, aus den Niederungen des Vergessens hier auftauchen und diese Sammlung von alten Erzählungen weiter vollständigen wird: ich bleibe am Ball - versprochen! |
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DIE KRAUTROCK-SCHUBLADE
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* Doc war zunächst auch einer der Vorwort-Aspiranten für dieses Werk: schließlich konnte er irgendwann alle Songs von W&W textsicher mitsummen. Wie ich ihn aber einschätze, wäre sein Vorwort länger als meine gesamten Memoiren geworden und wohl irgendwann in Richtung "musikalisch-medizinisches Nachschlagwerk" abgedriftet. Zudem hat er den beschriebenen Zeitabschnitt (67-73) mit studieren und operieren verbracht - und daher fiel er (leider) als Laudator raus... |
68er nach
Noten - Einleitung
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© 2003 by Walter Westrupp, zuletzt
bearbeitet im Dezember 2022