1968 in Essen - Intern. Essener Songtage - Witthüser und Westrupp 

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Leben in Essen rund um 1968

Durch das Tor der Friedhofsmauer
zieht ein Leichenzug zum Grab
und in tiefer, stiller Trauer
senkt den Leichnam man hinab

Auf der Wies´ mit großem Fleiße
gräbt ein Jüngling  Bäumchen ein
seines Liedes frohe Weise
klingt hell ins Leichenfeld hinein

Welcher Wechsel doch im Leben
tiefe Stille hier und Leid
dort, bei arbeitsamem Streben
Jugendglück und  Fröhlichkeit

Jüngling dort, mit frohem Sange
pflanze ein das Bäumchen, Du
bald, ja über kurz und lange
deckt auch Dich die Erde zu.

Text: Schöfel / Musik: Witthüser 
von der W&W-Produktion "Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten"

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WERDEGANG BIS DATO - PERSÖNLICHE VORGESCHICHTE

in paar erklärende Worte möchte ich an dieser Stelle vorausschicken, um die puritanisch-moralischen Anforderungen an einen männlichen Jugendlichen Jahrgang 46 (ich fungiere hier mal als Beispiel) zu verdeutlichen, der im Nachkriegsdeutschland plötzlich und unerwartet in den wilden 68ern landet. 
Zunächst erlebte eine sorgenfreie wohlbehütete Kindheit als "Nesthäkchen" (sprich "nicht eingeplanter Nachkömmling") in einem christlichen Elternhaus zusammen mit zwei älteren Geschwistern. Meine Eltern sind im Krieg ausgebombt worden, wurden evakuiert (dort in der Diaspora bin ich dann geboren) und fingen nach ihrer Rückkehr in Essen wieder bei 0 an -  und somit mussten auch wir "Blagen" uns gehörig "nach der Decke strecken". Es gab so gut wie nix an Luxus - wir freuten uns riesig über eine Taschenlampe zum Geburtstag oder warme Socken zu Weihnachten. Ich war in der evangelischen Jungschar, lernte dort das Gitarrenspiel und konnte meine Ferien in deren Camps verbringen (Urlaubreisen gab es bei uns aus finanziellen Gründen nicht), ich spielte im Posaunenchor des CVJM und sang in einer Kantorei. Auch zuhause war Musik angesagt: Vater hörte neben seiner Marschmusik mit mir die BFBS-Hitparade, und gemeinsam guckten wir uns den Beat-Club an, meine Schwester hörte ihren Modern-Jazz nicht zu leise, und an Wochenende schallten die Trompetenkonzerte von Maurice Andre aus dem Zimmer meines Bruders durchs Haus - ein breites inspirierendes Spektrum.
Wie von meinen Eltern erwartet, wie es zu jener Zeit gang und gäbe war - und ich es daher als folgsamer Sohn denn auch tat, beendete ich zunächst eine lange und ausgedehnte Schulausbildung dank zweier Ehrenrunden. Ich war nicht doof, aber stinke faul: blaue Briefe pflasterten meinen Schulweg. Ich bevorzugte Fächer wie "Musik", "Kunst" (Zeichnen, Malen, Collagen), "Werken" (Buchbinden, Schreinern etc.) - also handwerkliches, wo "learning by doing" angesagt war und nicht "learning bei auswendig lernen". Als Klassenclown war ich gefragtes Opfer bei den Lehrern, denn an mir konnten sie sich auslassen: Backpfeifen, Ohrläppchendrehen, Haareziehen, Kopfnüsse -  körperliche Züchtigungen waren damals noch in..:
Mir waren andere Dinge wesentlich wichtiger: Feten, Freunde treffen, Eislaufen, Musik machen, in Clubs abhängen, Mädels gucken. Ich besserte lieber mein Taschengeld auf und trug Zeitungen aus, und während der Schulferien ging ich arbeiteten - wie z.B. hier zu sehen in einer Brotfabrik - um mir so spezielle Wünsche erfüllen zu können wie den Kauf eines Rennrades oder den Erwerb des Führerscheins. 


Schwerste Maloche als Hähnchen im Korb in der Brotfabrik Oesterwind zu Mülheim

Im Nachhinein glaube ich, dass meine Mutter öfter in "meiner" Schule war als ich selbst! Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass mir letztendlich eine zumindest "mittlere Reife" zugestanden wurde. 

a ich meine minderjährigen Gebeine noch unter der Eltern Tisch setzte, geboten sie mir nun, eine Lehre zu absolvieren. Ja gut: ich war ein künstlerisch begabter junger Mensch und strebte daher eine Tätigkeit im grafischen Gewerbe an. Ich bewarb mich u.a. bei einer großen Druckerei in Essen-Rü., die neben vielen anderen Zeitschriften auch die Micky Maus-Hefte für den deutschsprachigen Raum druckte und mir daher prädestiniert schien für eine gute Ausbildung. Aufnahmeprüfung locker geschafft - alles in trockenen Tüchern, dachte ich - bis einem pingeligen Amtsarzt auffiel, dass ich an Deuteranopie leide (also rot-grün schwach bis farbenblind bin): nicht grade die allerbesten Voraussetzungen für einen Grafiker. Die Zeit drängte und ich beschloss kurzfristig, irgendwas an der frischen Luft zu suchen - nur keinen Bürojob. Ich stieg ein ins Bauwesen (Fernziel Architekt) und habe eine Lehre beim Weltkonzern HOCHTIEF angefangen und irgendwie auch beendet (als Eisenwichser [sprich Betonbauer] inkl. Gesellenprüfung und -brief).

Der Brief für das Ablagefach A
mein Gesellenbrief (auch Facharbeiterbrief genannt) von 1967

Als Beweis links ein Bild des Original - wunderbar..

Dieser Brief sieht aus wie ein Führerschein, war bzw. ist zu nix nutze - zumindest nicht für mich. Er taugte allemal als Beweismittel:  ich konnte damit eine abgeschlossene Berufsausbildung nachweisen - und hatte somit die Vorgaben meiner Eltern erfüllt...

Nun waren nach damals üblichem Lebensablaufplan folgende Schritte angesagt:
1. feste Arbeitsstelle suchen, finden und Karriere machen
2. feste Freundin suchen und finden
3. die dann auch schnell heiraten (war damals Voraussetzung für Pt. 4)
4. gemeinsame Wohnung suchen und finden und einrichten
5. Kind(er) zeugen und gemeinsam alt werden
um dann
6. sich bis an sein Lebensende ausmalen, was man wohl alles verpasst hat
oder 
7. irgendwann aussteigen und einen eigenen Weg einschlagen...


...mit einem ersten eigenen Auto und der 1. Freundin zunächst mal ab nach NL.

Die meisten der Jungs aus meinem damaligen Umfeld (Schule, Lehre, Freundeskreis, Band) versuchten, diesen Erwartungen zu entsprechen und dem ihnen vorgegebenen Weg zu folgen - ein Abweichen wäre ja gegen die Norm und das familiäre Um(n)feld und damit quasi ein Angriff auf das Establishment gewesen, Diskussionen wurden nicht akzeptiert.

Viele zogen ihr Leben zumindest bis Pt. 4 durch (Heirat und zusammenziehen, bei einigen kam das Kind schon vor einer Hochzeit, geheiratet werden musste dann auf jeden Fall, ob man wollte oder nicht), manche freuten sich auch über Pt.5, hingen evtl. eine Zeit lang bei Punkt 6 (Soll das jetzt etwa schon alles gewesen sein?) oder übersprangen die 6 und vollenden diese ihre  "Karriere" mit Pt. 7 und sortierten sich neu ein - letztendlich kam kaum einer "unversehrt" durch.
Ich
wagte den Bruch, stieg vor Punkt 1 aus, wollte aus dem Hamsterrad raus und mein eigenes Ding machen. Ich traute mich und begann ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben gleich mit Pt. 7 - wobei:


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PRIVATE SITUATION 68

eine private Situation Ende 1968 stellt sich für mich recht undurchsichtig dar. Bernd Witthüser hat mir meine Freundin "Bimbo L." ausgespannt, geschwängert und geheiratet. Das mit der "freien Liebe" und dem "Was mein ist, ist auch Dein" hatte ich da wohl noch nicht so richtig verinnerlicht und gerate in eine Sinnkrise: schwerer Liebeskummer treibt mich in eine tiefe Depression. (auf dem Foto rechts ist meine Welt noch in Ordnung...),


Mit Bimbo zu Besuch bei meinem Bruder

Ich meide fortan das Podium - was ja für mehr als 1 Jahr mein Zuhause geworden ist - sehe meine Freunde nicht mehr, ziehe mich total zurück. Für kurze Zeit quartiere ich mich wieder in mein altes Jugendzimmer bei meinen Eltern ein, merke aber schnell, dass dieser Zustand keine Dauerlösung sein kann.


DJ Walter mit Barmädel Lucy

Ich lasse meine Beziehungen spielen und lande relativ schnell in Bünde/Westfalen, wo ich mich in einem  Etablissement als Discjockey verdinge. Kost und Logis frei im Haus bei den Barmädels: da komme ich schnell auf andere Gedanken (siehe Bild links). Als nach 3 Monaten der Laden abfackelt, geht es flugs zurück nach Essen - Heimweh ist eben noch schlimmer als Liebeskummer.

Auch hier in der Heimat werden Discjockeys gesucht und gebraucht, und so arbeite ich in verschieden Diskotheken (Kaleidoskop, Pferdestall, Black Horse), lege Platten auf und unterhalte das Publikum mit Witzen, Sprüchen und Spielen, hab frei Trinken & Essen und verdiene mir DMchen.

inige der alten Kumpels von früher kontaktieren mich dann wieder, wir treffen uns tagsüber - ich arbeite ja des nachts - hören Musik, rauchen und quatschen über Gott und die Welt. Uns bewegt in jenen Tagen so Einiges: das Leben um uns herum gerät ordentlich in Bewegung. Auf der einen - der großen Seite - die "Bürgerlichen", eben die, die das Sagen haben, vollkommen fokussiert auf den Wiederaufbau, mitgerissen vom Wirtschaftswundertraum, doch noch behaftet mit dem Muff der Kriegs- und Nachkriegszeit. Auf der anderen Seite die "Revoluzzer", die APO, die politischen Außenseiter, die aktiven Studentenverbände, die das herrschende System in Frage stellen. Und mittendrin irgendwo dazwischen: die mehr oder weniger Unpolitischen, die ihr eigenes Ding machen, die sich ohne Revolution selbst verwirklichen, die sich eine eigene Freiheit, eigene Freiräume friedlich (er)schaffen wollen. Bezeichnend für uns und unsere Situation in der damaligen Zeit ist dieses Foto: ein Farbklecks in grauer Landschaft - so fühlen wir uns auch...

.
Ein wenig Farbe in einer tristen grauen Industriekulisse

Wir wollen - zunächst mal für uns selber - Farbe in unser Leben bringen, inspiriert durch das, was wir im Fernsehen sehen, was wir in der sogenannten "Underground"-Presse lesen und was durch die Musik zu uns schallt: Flower Power. Wir hören Musik von Jefferson Airplane, Grateful Dead, Big Brother & the Holding Company, Frank Zappa, Quicksilver Messenger, Country Joe & the Fish etc...


Labormaterialien für die Dia-Produktion

.Wir verstehen die Texte größtenteils zwar nicht, aber wir spüren die Botschaft. Wir missbrauchen alte Diaprojektoren, präparieren Diarahmen unter Zuhilfenahme von Pipetten mit Acetylen und Farben (siehe Labor links) und fabrizieren so unsere eigenen Lightshows, wir ziehen uns bunt an und den einen oder anderen durch und bilden so eine kleine freie Gemeinde in einem wilden, feindlichen Land, verschrien als Gammler, als arbeits- und lichtscheues Gesindel - aber da stehen wir drüber und lächeln zurück.

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UNSERE WELT

- das war schon eine verdammt schöne, wilde, tolle, affengeile, erlebnisreiche, emotionsvolle, überschwängliche Zeit: jeder, der aktiv dabei war, der diese Zeit mit gelebt und erlebt hat - egal in welcher Funktion - wird sie niemals vergessen. In vielen Gesprächen, in Briefen und emails höre und lese ich von später Geborenen: wie gerne wären wir damals dabei gewesen und hätten das live miterlebt... Da hatte ich wohl die Gnade der frühen Geburt.  


So sah es bei den Studenten-Demos aus, egal ob in Berlin, Essen, Düsseldorf oder München

Damit verbunden sind Namen wie Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, Fritz Teufel, Axel Springer, FJS und Willi Brand, Bader und Meinhof, Ho Chi Ming, Mao und Bewegungen wie Uni-Proteste, Demos, Internationale Songtage in Essen 68, Vietnam-Krieg, Hippies, Kommunen, antiautoritäre Erziehung, Emanzipation: das Auflehnen gegen bestehende Institutionen, Strukturen und Verhaltensformen.

In Erinnerung sind mir noch seinerzeit gerne ge- und benutzte Sprüche wie  Trau keinem über 30 Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren • Wer 2x mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment Revolution ist machbar, Herr Nachbar Haut dem Springer auf die Finger Auf deutschem Boden darf nie mehr ein Joint ausgehen...

Und mittendrin: WIR: Forscher, Astronauten, Piraten, Weltenbummler in unerforschtem, fast jungfräulichem Umfeld. Alles war neu und aufregend, Freiräume wollten gesucht und ausgefüllt werden - und das haben wir angepackt und durchgezogen. Die Freiheit des Handelns war uns damals glücklicherweise durch eine demokratische Gesellschaftsordnung möglich: der Mensch ist frei, wenn er eine Wahl treffen kann. Wir nutzen dies, wir waren jung und hatten nichts zu verlieren. Mit einem gefüllten Rucksack auf dem Rücken wäre unser Weg schwerlich zu gehen gewesen. 
Mit einer kleinen Reisetasche stand uns die ganze große Welt weit offen: es reist sich einfach besser mit kleinem Gepäck

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MEINE WEHRDIENSTZEIT

ie Wege des Herrn sind unergründlich und manchmal wirklich nicht nachvollziehbar: quasi im "summer of love", mitten in einer Zeit des Aufbruchs, in der sich ein junger Mann seinen Platz sucht, lässt er zu, dass ich den Dienst für das Volk anzutreten habe. Dreimal hatte meine Cola-Therapie wunderbar angeschlagen: ich werde wegen zu hohen Blutdrucks jedes Mal zurückgestellt. Als ich diese großen Mengen Cola nicht mehr sehen, geschweige denn trinken kann und will, andererseits versäumt habe, den Wehrdienst zu verweigern, werde ich prompt vergattert und zur Ausbildung an der Waffe in das Heer der Bundeswehr eingezogen. Fortan kämpfe ich nicht nur gegen die Russen, sondern auch fortwährend um meinen Bart, muss aus diesem Grund immer wieder in die Gaskammer für Dichtheitstest meiner Gasmaske (die natürlich mit Bart nicht ganz dicht abschließt - was mich immer wieder bitterlich zum Weinen bringt, was dann wiederum die Ausbilder sehr freut - aber ich gebe nicht nach), werde getrietzt, bekomme den Wochenendurlaub gestrichen und muss Sonderwachen schieben...  
Ich bin (k)ein guter, aber ein li(u)stiger Soldat, der immer wieder tollen Stress mit seinen Vorgesetzten hat - verschlafen, Schuhe nicht geputzt, Haare zu lang, Haare zu kurz, patzige Antworten gegeben, in die falsche Richtung geguckt, mit der falschen Hand gegrüßt: zur Belohnung darf ich dann 20 Liegestütze fabrizieren oder 30 Runden um die Baracke rennen, bekomme Extra-Gewichte bei Märschen, werde bei Stubenappellen bevorzugt behandelt - die ganze Palette an (legalen?) Nickeligkeiten rauf und runter eben, doch sie haben mich damit nicht brechen können! 

Ein wahres Pfund für eine Karriere bei der Bundeswehr ist meine Lunge (groß geworden durch die Blasmusik) sowie meine skiffleerprobte wunderbare Stimme: ich brülle beim Stubenappell (als Stubenältester bin ich per Gesetz dazu verpflichtet) so laut meine Meldung, dass die ganze Kaserne stramm steht. Des weiteren kommt mir meine Körpergröße  (oder -kleine) zugute: mit 164 cm bin ich sowohl in der Gruppe, im Zug als auch in der Kompanie der Kleinste, somit überall der Letzte (nicht das...) und darf daher dann "Lied durch" brüllen, wenn "Gesang" angesagt ist (die gedient haben, wissen Bescheid). Es dauert nicht lange, und jeder in der Kaserne kennt mich und meine Stimme - sogar der Kommandeur...

iese Ausbildungsphase endet nach einem ½ Jahr Eingewöhnungs- und Anpassungszeit sowie Ausbildung zum Richtfunker, und ich werde aufgrund meiner hervorragenden kämpferischen Qualitäten und herausragender stimmlicher Veranlagung in die Kaserne Essen-Kray versetzt. Zunächst wird mir ein neues Outfit verpasst - die Truppe kleidet mich neu ein - und alle diese schönen Sachen sind (ich gebe hiermit zu: nicht ganz gegen meinen Willen) irgendwie reichlich zu groß (bzw. ich bin zu klein): der Helm sitzt über den Augen, die Jackenärmel sind ca. 10 cm zu lang bzw. meine Arme zu kurz, der Mantel erreicht Zeltdimensionen und schleift über den Boden, und mein Beinkleid (das wg. des langen Mantels leider nicht so richtig zu Geltung kommt) wird im Schneiderhandwerk "Korkenzieherhose Marke Volkschullehrer" genannt. Als ich derart ausstaffiert zum ersten Mal Torwache schieben darf und in Ausübung meiner Pflicht heldenhaft den Kommandanten kontrolliere, ist dieser so erfreut ob meines Outfits, dass er mich stehenden Fußes zum UvD (Wachhabenden) schickt -  und dieser mich flugs vom aktiven Wachdienst abzieht (der murmelt dabei etwas von Schädigung des Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit?). Effekt: ich werde dort nie wieder eingesetzt.


Die schönsten Momente in der Grundausbildung waren die, 
bei denen keiner der Ausbilder in der Nähe war

ach entsprechend lancierten Nachrichten wird auch bei höheren Dienstgraden bekannt, dass in ihrer Kaserne ein Musiker, also ein echter Künstler, einen ganz normalen Dienst tun muss. Mir war von Anfang an klar, dass ich in der Hierarchieebene der BW eigentlich total anders eingesetzt gehöre, und jetzt werde ich endlich - auch dank meiner Bekanntschaft mit den Elite-Schwimmern von Essen 06, die gute Jobs in der Waffenkammer, in der Schreibstube etc. inne haben - mit der Maßgabe, meinen mittlerweile auf Schnauzbart geschrumpften Bart auf das wirklich "Notwendigste" zu kürzen, als Ordonanz ins Kasino versetzt, wo ich fortan unter Einsatz aller meiner damals schon vorhandenen handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten Kaffee koche, Billard spiele, Küchenschaben unter den Kartoffeln verstecke, selbstgebratene Spiegeleier serviere und nach Feierabend mit meinem Oberfeld im „Goldenen Anker“ in Duisburg versacke. Ein weiterer positiver Effekt der Versetzung: ich bin ganz nahe der Heimat und kann aufgrund des Schichtdienstes wieder als Disc-Jockey arbeiten. Dies übe ich im Bistro "La Lumiere" am Beginn der Rellinghauser Straße im Schatten der alten Stern-Brauerei aus, wo sich tagsüber die Luden ihren Asbach-Cola flaschenweise reinziehen und abends die Jugendlichen auf den beiden Etagen zu den neuesten Hits, die der Disc Jockey auflegt, ausgelassen tanzen. Damit bin ich zurück in der Szene, habe ein warmes Zimmer inkl. freie Kost & Logie, bekomme einen zugegeben kargen Sold, kann mir aber nebenher mit dem DJ-Job so einiges dazu verdienen - es geht mir finanziell richtig gut. Ich leiste mir den Luxus eines fahrbaren Untersatzes, um schnell hin und her flitzen zu können: einen Glas 1304 CL (siehe Bild rechts - kennt heute niemand mehr). Der ersetzt mein erstes eigenes Auto: einen geilen kleinen feinen, leider verunfallten Fiat 500 (tiefer gelegt, breiter hergerichtet: sah fast aus wie ein Arbath). Nachdem auch dieses Fahrzeug seinen Dienst quittiert, fahre ich vorerst nur noch 2rädrig: als erstes ein affengeiles holländisches Bromfiets, das mir aber nach einigen Monaten geklaut wird. Darauf folgt ein top frisiertes Moped der Marke Zündapp, welches ein ähnliches Schicksal ereilt wie das vorgenannte. Das reicht mir endgültig: ich bewege mich fortan nur noch per pedes, bis wir uns irgendwann endlich zusammen den ersten "W&W-Dienstwagen" leisten können. 

ch habe für mich das Beste aus diesen 1 ½  Jahren BW-Zeit herausgeholt und werde 1969 nicht unehrenhaft als Stabsdienstsoldat entlassen - habe es nicht mal bis zum Gefreiten geschafft - und bin tatsächlich auch noch irgendwie stolz darauf. Das alles war ja zum Glück nur "Krieg spielen" gewesen und kein Ernstfall: den haben wir später auf unsere Art & Weise besungen in dem Lied: "Leis ertönt das Abendglöckchen":

 


Damit ist das Kapitel "Dienst für das Vaterland" aber noch längst nicht abgeschlossen: als Mit-Begründer der "Jesuspilz"-Bewegung stelle ich den Antrag auf Kriegsdienst - Verweigerung, und da geht die Post dann so richtig ab (folgt im Kapitel "Viehoferstr.").

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IEST - INTERNATIONALE ESSENER SONGTAGE 1968

 

ährend meines Wehrdienstes werde ich aufmerksam auf eine große Sache, die in Essen bevorsteht. Im Blätterwald rauscht es verdächtig, Volkes Seele wird angestachelt: da sollen Langhaarige, Protestler, Hippies aus Amerika, diese Teufelsklicke aus Berlin und was immer für Typen in der Grugahalle in Essen an- und auftreten – die Essener Songtage werfen ihre Schatten voraus. Viele der angekündigten Musiker - vor allem die deutschen - kenne ich teils persönlich von der Waldeck, aber die Fugs, die Mothers, Frank Zappa, Julie Discoll, Alex Corner etc. will ich unbedingt mal live sehen und hören. Im Fernsehen laufen Interviews mit verunsicherten Essener Bürgerinnen und Bürgern, die den Tenor haben: die sollen alle da bleiben, wo sie jetzt sind. Originalton: "Sollte mein Sohn dort hingehen, schlage ich ihn tot!" 


INTERNATIONALE ESSENER SONGTAGE 1968

Wie schon gesagt: Essen ist nun mal keine Großstadt wie München, Düsseldorf oder Berlin. Essen ist ein Zusammenschluss von vielen kleinen Gemarkungen und Orten, nicht weltoffen, sondern provinziell - von daher passt so eine Veranstaltung eigentlich gar nicht hier her, und alle (Presse, Musiker, Veranstalter, Politiker und Publikum) sind äußerst gespannt, was da wohl abgehen wird...

n den Medien wird ordentlich Wirbel erzeugt, und ich als neugieriger wissbegieriger junger  Wassermann setze daher alles daran, an diesem Wochenende „Heimaturlaub“ zu bekommen. Mit einer Rekruten-Fahrgemeinschaft komme ich tatsächlich pünktlich freitags abends in Mülheim bei meinen Eltern an, und am Samstagmorgen fahre ich mit der Straßenbahn in Richtung Essen. Alles ist ganz normal in der Bahn "Linie 18", bis an der Haltestelle Hobeisenbrücke ein ganzer Schwung „Unbürgerlicher“ den Waggon stürmt: sie kommen vom Jugendzentrum Essen, wo eine „Außenstelle“ der Songtage für die Kabarettisten eingerichtet ist. Beim Umsteigen am Essener Hauptbahnhof zur Grugahalle geht es dann schon richtig ab: Jungs und Mädels im Parka, mit Schlaf- und Rucksäcken, es wird geraucht und erzählt und gesungen und gelacht, ein Sprachgewirr ohnegleichen. Mir schießt es in den Kopf: hoffentlich merkt hier keiner, dass ich deutscher Soldat bin: die steinigen mich - oder bieten mir einen Joint an - doch alles ist und bleibt friedlich, es gibt keinerlei Aggressionen, keine  Probleme: eine harmonische Grundstimmung liegt über allem und in allen.

Beim Anblick der Grugahalle überrollt es mich dann endgültig: junge Menschen soweit das Auge reichte, bunt, fröhlich, offen und locker - wobei auch revolutionäre Töne nicht zu überhören sind. Fernsehstationen haben ihre Aufnahmewagen aufgebaut, der Rundfunk ist natürlich auch am Start und Fotografen sind vor Ort: Motive sind ja zu Genüge vorhanden.


Fritz Teufel, Frontmann der Kommune 1 aus Berlin

Die größte Traube bildet sich anfangs um die Jungs und Mädels der Kommune 1 aus Berlin (Teufel, Langhans und Co.), aber schnell wende ich mich wieder dem eigentlichen Geschehen zu.
Ich habe 1965 die Rolling Stones in dieser Halle erlebt, aber das hier kommt mir schon allein von den Menschen her ein paar Nummern größer vor – und irgendwie total anders. Ich sehe vereinzelte Polizisten, die sich aber mehr im Hintergrund halten - nicht, dass ich mich unwohl gefühlt hätte, aber es sind so viele (teils fremde) Eindrücke, ein anderes, unbekanntes Flair, eine noch nicht erlebte Aura: ich schwimme einfach mit, lasse mich treiben, hin und her gerissen von den Aktionen, die überall und ununterbrochen abgehen. 
it großen Augen, mit meiner Bundeswehr-Fastglatze (aber immerhin noch mit einem dicken Schnauzbart) und mit offenem Herzen sauge ich das alles in mich hinein. Es ist ein Bombardement für Auge, Hirn und Herz - Musik überall  - eine donnernde Achterbahnfahrt durch unbekanntes Terrain – ein Vergessen aller Konventionen – ein Happening für alle Sinne – ein Rausch unbekannten Ausmaßes. Auf mehreren Bühnen Musik, Lightshows tauchen die Halle in psychodelisches Licht, es riecht nach Shit und Gras,  es ist rappelvoll in der Halle und vor der Halle und im Foyer unten, und alles wartet auf Zappa und die Mothers.
Die kommen und spielen: ich verstehe  gar nix, die Musik ist auch nicht von der Art, die ich normalerweise höre, aber es reißt mich mit - vergleichbar mit einer Missionsveranstaltung von Billy Graham, aber eben auf einer ganz anderen Ebene.


Frank Zappa & die Mothers of Invention life auf der Bühne der Grugahalle

Im Foyer sieht es aus wie auf einer  Messeveranstaltung für Hippies und Undergroundler mit einem Riesenangebot an Dingen, wie ich sie in dieser Art und Masse noch nicht gesehen habe: Stände mit Postern, T-Shirts, Stirnbänder, Zeitschriften, Bücher, Platten, Wasserpfeifen und Chillums, Ketten und Schmuck...
...und jede Menge Gleichgesinnte: WOOOOOOOOOOOW.

DIE ERWECKUNG

lleine bin ich hin, alleine auch irgendwann nachts die 10 km nach Hause gelaufen – und fühle mich nicht allein. Von 0 auf 100 an einem Tage, das hat rein gehauen, das sitzt. Und verbunden damit die tief greifende Erkenntnis, die sich in dieser Nacht festsetzt: ich bin einer von ganz vielen. Wie sicherlich viele andere, die ich an diesem Tag gesehen und gehört habe, fühle ich: zusammen können wir eine Macht sein, wenn ein jeder sein Ding durchzieht, sich verwirklicht, seinen eigenen Weg sucht und findet - als Teil einer neuen Generation. Es ist der Weckruf: ich habe die Möglichkeit, mich mit meinen Fähigkeiten, mit meiner Kreativität - und mit anderen - zu verwirklichen. Und auch das wird mir klar: dafür muss ich aktiv werden, ich muss mein Leben selbst in die Hand nehmen: nur zuschauen, genießen und alles toll finden wird mich nicht weiter bringen. 

Ich habe später einen Text geschrieben, der genau dieses Gefühl beschreibt und eigentlich seit den Songtagen in mir nachhallt: "... und ich erkenne mich, und ich erkenne meinen Sinn: ich komm, ich geh, ich war und ich bin".

 

Nur: bevor ich diesen Weg beschreiten und das Gesehene und Erlebte mit Leben erfüllen kann, muss ich zunächst diesen Wehrdienst zu Ende bringen.


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68er nach Noten - Kapitel 2: 1968
 © 2019 neu zusammengestellt by Walter Westrupp 
 letztmalig bearbeitet im Jänner 2022