Viehofer Str. 15 - 68er nach Noten - Witthüser Westrupp - Essener Songtage 68 - 1. Kommune in der Stadt Essen, LSD etc.

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Leben mit Musik

Wenn ich ein wenig fröhlicher wär´
und hätte Mut ein wenig mehr
auf einer Wiese würd´ ich liegen
und Seifenblasen in den Himmel schieben.

Ich würd´ auf alle Schulden scheißen
Wechsel, Schecks und Ähnliches zerreißen
und einen Teufel mich darum scheren
was die verfluchten Folgen wären

Ich würd alles, was ich hab, verkaufen
dann fressen, kiffen, ficken, saufen
den Bürger, der da motzt, erschlagen
und den Sprung ins ewige Feuer wagen.

Witthüser & Westrupp von der LP "Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten"

 

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 1. ESSENER KOMMUNE


Viehoferstrasse 15: das Haus von vorne

ach dem Ende meiner Wehrdienstzeit beziehe ich ein Penthaus-Zimmer in der Viehofer Str. 15 in der Innenstadt von Essen - nicht wirklich die feinste Gegend der Stadt, doch von daher auch für einen armen arbeitsuchenden Musiker bezahlbar. Ganz früher fuhr eine Straßenbahn durch diese enge Gasse, zu meiner Zeit wurde diese Autostraße aufgerissen, über ein Jahr lang mit neuen Leitungen und Kabeln und Rohren versehen, dann zur Fußgängerstraße umgewandelt - und damit war der Parkraum vor dem Haus endgültig Geschichte. Hier also liegen besagte fast konspirativ zu nennende  Dachgeschosszimmer - natürlich ohne Aufzug - in der 5. Etage (leider ist auf dem Foto links das Dach mit den dort liegenden Apartments nicht zu sehen - bin einfach zu klein...). 
Hier wohnt Bernhard Witthüser und einige andere Freaks bereits seit einiger Zeit, nun stoße auch ich dazu. Wir (also W&W) haben uns inzwischen ausgesprochen (er lebt mittlerweile alleine ["von einer Frau lassen wir uns nicht noch einmal auseinanderbringen"]) und endlich soll an diesem Ort die Saat der Songtage aufgehen: es folgt die Zeit der 1. Essener Kommune. Ich lerne (neben vielen und vielem Anderen) die Macher der Songtage (R.U.Kaiser, Tom Schröder, Hendryk M. Broder, Reinhard Hippen) persönlich kennen - und 2 Jahre später bespielen Witthüser & Westrupp auf dem 3. Essener Pop- & Blues-Festival tatsächlich die Bühne der Gruga Halle, auf der ich damals Zappa beim IEST  gesehen habe. Damit schließt sich der Kreis: all das, was auf mich eingeströmt ist bei meinem Besuch der IEST 1968, kann und wird nun endlich in die Tat umgesetzt und gelebt: hier und jetzt beginnt meine/unsere Sturm- und Drangzeit. 


Die mittlerweile aufgepeppte Viehofer Strasse Anno 2020
das Haus rechts neben dem weissen Sonnenschirm ist die No. 15

ohnen und Leben in den 6 „Apartments“ der Etage (gleichbedeutend mit 6 „Wohnungen“, das entspricht tatsächlichen 6 „Zimmerchen“, die im normalen Immobilienmarkt als „Besenkammer“ bezeichnet werden müssten [?!]), ist ein nahezu unbeschreibliches Erlebnis. Ich will damit sagen: diese "Zimmer" sind verdammt klein geraten - ich lass jetzt die blöden "" weg - ein jedes ist zwischen 10,5 und 12 m²  groß und fast zur Hälfte mit einer Riesenschräge verkleinert. Zudem steht in jedem Raum ein riesiges Kombigerät (Kühlschrank/Spüle/Herd/Waschbecken am Stück) - da bleibt nicht viel Platz für Möbel, Schränke oder Betten. Mein Raum hat 10,5m², eine Matratze passt grade so unter die Schräge, ein runder Couchtisch mit abgesägten Beinen ist Mittelpunkt des Zimmers, ein selbstgebautes Bücherregal dient als Raumteiler zum Einbauschrank, wo die überschaubare Zahl meiner Anzieh-Klamotten Platz findet. Zwei Poster an der Wand, ein Hänge-Regal für Gewürze neben dem Durchlauferhitzer und das selbstgebaute Standregal am Fußende des Bettes für den kleinen Fernseher und den Plattenspieler, ein paar Kissen auf dem mit Reismatten ausgelegten Boden als Sitzmöbel: damit ist dieser Raum voll ausgereizt und mehr passt einfach nicht rein. 

Als meine Mutter mich zum 1. und einzigen Mal dort besucht, ist ihr eine gewisse Erschütterung kaum anzumerken. Beim Abschied flüstert sie mir ins Ohr: "Du weißt, dass Du immer in Dein altes Zimmer zurück kannst!". Ja klar: das zählt gut doppelt so viele m², die lichtdurchflutet sind, mit 2 Fenstern und einem kleinen Balkon - aber solche Angebote sind natürlich keinen ernsthaften Gedanken wert. Ich bin voll zufrieden mit dem, was ich hier mein Eigen nennen kann. Haben mir meine Eltern doch selber beigebracht: Mein Kind, du musst dich immer nach der Decke strecken!  Ziehe ich voll durch - sogar die Decke teilen und zusammen drunter kriechen ist hier im Obergeschoss des Öfteren angesagt - vor allem im Winter, denn dann ist solches Tun sogar unbedingt notwendig und überlebenswichtig. Ursprünglich wohl nicht als Wohnraum gedacht, ist das Dach relativ ungedämmt, und wenn dann noch die Heizungsanlage die Wärme nicht bis zu uns nach oben in die Heizkörper hochgedrückt bekommt, wird es ganz schnell saukalt und wir rücken tatsächlich enger zusammen, wärmen uns gegenseitig und warten darauf, das eines unserer Domizile (KZ, JZ, Podium, POP IN etc.) endlich öffnet und wir dort auftauen können. Im Sommer gibt es logischerweise den gegenteiligen Effekt: die Hitze flirrt auf den Dachpfannen und in unseren Zimmern, Durchzug können wir mit den kleinen Dachfenstern nicht wirklich erzeugen - da hilft dann nur ein Fußbad bei der badenden Jungfrau auf dem Kennedy-Platz. 

radezu unbezahlbar ist dagegen der wunderschöne Ausblick auf die Dächer der Stadt, den ich genießen kann, wenn ich mich durch die kleine Fensterluke quetsche, und durch die - wenn die Scheiben geputzt wären - ein paar Sonnenstrahlen das Zimmer etwas aufhellen würden. Keinesfalls unerwähnt lassen möchte ich den Luxus einer Toilette und einer Dusche - für alle. Diese Art von Gemeinschaftseigentum (in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts ja durchaus üblich) ist für „Altbewohner“ ganz normal, bedeutet für einen Neueinsteiger bzw. Anfänger aber eine tiefe Zäsur in seine bisherige Lebensform und somit ein einschneidendes existenzielles Erlebnis - auf das ich allzu gerne verzichtet hätte. Auf den mir zur Verfügung stehenden "eigenen" m²  komme ich mir mit meinen immerhin 165 cm Körpergröße wie ein Riese vor - zurückblickend erscheint mir meine Stube in der Kaserne gegen dieses Loch wie ein riesiges Luxus-Apartment. Aber mekkern giilt nicht: ich habe ein eigenes Zimmer – eigene 3 Wände plus Schräge! ...doch hab´ ich die wirklich?
Die Türen einer jeden "Wohnung" stehen generell alle offen und jeder derKinderbild von W&W Mitbewohner verfügt über mindestens eine Stereo-Anlage, die den ganzen Tag über zweckentsprechend betrieben wird. Da läuft die Musik aus den Lautsprechern, wabert über den Flur und vermischt sich in den Zimmern. Das führt dazu, dass bei dem Versuch, auf der eigenen Anlage eine Beatles-LP anzuhören, der Musikliebhaber plötzlich ein neues einzigartiges quadrofonischen Klangerlebnis erfährt, bei dem die Beatles ihre Besetzung um Eric Burdon, Golden Earing, Rod Stewart und die Stones erweitert haben, und dieser Sound (?) erinnert dann stellenweise an den Free-Jazz, mit dem manche Folkwang-Studenten des abends im PODIUM ihre extrem kleine Fangemeinde quälen. Kommunarde Sternheimer, der sich eine leistungsstarke 3 D-Lautsprecheranlage zusammengelötet hat und bei seinen Verdrahtungsarbeiten so manches Mal die gesamte Etage strommäßig lahmlegte, war uns Anderen gegenüber auf diesem Gebiet definitiv im Vorteil und konnte sich daher meist mit seinen musikalischen Vorlieben durchsetzen (ich gönne mir daraufhin Sennheiser-Kopfhörer und überhöre ab da aufdringliche Geräusche). Mittels der in unseren Räumen herumschwirrenden Schallwellen ist unser Hauses das einzige Gebäude in der ganzen Stadt, das meiner objektiven Meinung nach im Takt wackelt. Tatsächlich gewöhne ich mich relativ schnell an all diese in einer solchen Gemeinschaft üblichen Abläufe und Gegebenheiten, sogar wenn bei einem trauten intimen tête a tête jemand ohne Vorwarnung ins Zimmer stürzt - nicht mal ein leises „Entschuldigung“ für nötig hält - und nach Butter fragt oder warum die Dusche (mal wieder) nicht funktioniert, wer denn Putzdienst hat - als hätte ich grade nix anderes im Kopp. Sag ich was, kommen Verse wie: "soll ich etwa warten, bis Du endlich fertig bist?" - also lieber nix sagen, ignorieren, weitermachen ..

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FRÜHSTÜCK MIT MUSIK

as Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, das habe ich schon als Kind gelernt: frühstücken wie ein Kaiser, mittags essen wie ein König, abends wie ein Bettelmann. Bei uns ist gemeinsames ausgiebiges Frühstücken ein bedeutender und fester Bestandteil unseres Tagesablaufes: Zwar haben wir kein gemeinsames Esszimmer, aber reihum ist jeder Mitbewohner in seinem Zimmer dran mit der Ausrichtung eines Frühstücks. Frühmorgens so gegen 13 Uhr zieht er los und holt frische Brötchen und all das, was zu einem zünftigen Kommunarden-Frühstück gehört, dann kocht er einen ordentlichen Kaffee und baut das Frühstücksbuffet auf. Ein weiterer Mitbewohner steigt derweil runter in das im Erdgeschoss gelegene Musikgeschäft GRÄF, einen der größten Musikinstrumentenläden des Ruhrgebietes mit einer Riesenauswahl an A- und E-Gitarren, Verstärkern und elektrischen Orgeln, verteilt auf 2 Etagen zzgl. eines Orgelstudios, wo Musiker Instrumente ausprobieren oder Unterricht buchen können. Hier kaufen bzw. leihen wir uns all das, was wir auf der Bühne benötigen, einsetzen oder ausprobieren sowie alle Verbrauchsmaterialien wie Saiten, Plektren etc. Zudem besitzt GRÄF eine Abteilung, die es normalerweise in Musikinstrumentenläden nicht gibt: einen Schallplattenstore. 
Hier lässt sich unser Abgesandter die für uns infrage kommenden LP-Neuerscheinungen des Tages aushändigen (also alles, was irgendwie nach "Underground" riecht, was schon rein optisch aus dem Rahmen fällt und jenseits einer nur am Kommerz orientierten Musikindustrie entstanden sein könnte - nur eben auf gar keinen Fall "Mainstream"), die wir nun beim frühstücken in Augenschein nehmen. Zunächst werden die Plattencover begutachtet, denn die sind mit der Zeit zu regelrechten Kunstobjekten geworden und weisen schon darauf hin, in welche Richtung der musikalische Inhalt geht. Die psychedelischen Cover von Santana, John Mayall, Jimi Hendrix, Doors, Cream, Grateful Dead, Quicksilver, Jefferson Airplane & Co. auf der einen, die mehr ländlich- und persönlichen Cover von Lindisfarne, CSNY, ISB, Dr. Stangely Strange etc. auf der anderen Seite sagen schon viel über die darin versteckte Musik aus (auf den Hüllen verbleiben nach Durchsicht des Öfteren Spuren von Fettfingern und Marmeladenkleckse der  Kommunarden, die haben wir aber vor einer Rückgabe so gut wie möglich kaschiert - wir wollen uns ja nix nachsagen lassen). Dann geht´s an die Inhalte: Vinyl ist das Transportmittel für die Musik, und mit diesem Medium gehen wir sehr viel vorsichtiger zu Werke: Schmutz und Kratzer verderben nun mal den Musikgenuss. Wir trennen sehr schnell die Spreu vom Weizen: 08 15-LPs werden unverzüglich zurückgegeben in den freien Verkauf, die hörenswerten, meist weniger bekannten, die wir behalten, lassen wir unten auf die immer größer werdende Liste mit anschreiben und - wenn irgendwie irgendwann irgendwoher Geld eingeht - wird dieser manchmal nicht unerhebliche Posten beglichen.

Je nach Anzahl der LPs, die wir beim Frühstück durchzuhören haben, zudem auch noch abhängig von den Erlebnisberichten der einzelnen Kommunarden sowie verschiedener aktueller innerer und äußerer Einflüsse, zieht sich so ein Frühstück oftmals bis in den  Mittag (also bis ca. 18:00 Uhr) hin, dann ist jeder Teilnehmer dieser Tafelrunde aber auch wieder auf dem Laufenden, zumindest was das internationale Musikbusiness angeht. Einige unserer Freunde sparen sich den Kauf eigener Platten, als sie realisieren, dass sich die interessantesten Neuerscheinungen kostenlos bei uns an- bzw. abhören lassen. Sie nehmen von nun an des Öfteren an unseren Frühstücken teil und steuern einige auserwählte bröselige Krumen bei - nehmen wir gerne: eine "win win Situation" für alle Beteiligten.   


Curny war einer derer, die bei uns aus- und eingingen und der eine zeitlang bei W&W den Bass zupfte
o wächst mit der Zeit unsere ganz spezielle Plattensammlung mit  Aufnahmen von Aphrodites Child, Incredible String Band, Dr. Strangly Strange, Grateful Dead, Zappa, Country Joe, Cream, Clapton, Cale, Krokodil, Pink Floyd, Rare Bird, Santana, CSN etc. 
Meine persönlichen musikalischen Highlights zu der Zeit sind Jethro Tulls Flötentöne, Joe Cockers Mad Dogs & Englishmen, Rod Stewards  "An Old Raincoat won´t ever let you down", Lindisfarnes "Nicely Out of Time"... Was ich bei Gräf nicht bekomme, find ich bei 2001, dem etwas anderen Plattenladen direkt um die Ecke.


Bernd zu Besuch in Walters Kommunardenzimmerchen

Nach den rauchigen Chansons der Hildegard Knef, Simon & Garfunkels "Sounds of Silence" und den melancholischen Klängen aus Miles Davis´s Trompete, die mich durch meine Pubertät begleitet haben, dann Beat-Club, BFBS-Hitparade sowie die Hitparaden-Sounds, denen ich während meiner DJ-Karriere hilflos ausgeliefert war, ist das nun eine gewaltig andere, den Horizont erweiternde Musikwelt. Ich erfahre ganz neue zutiefst hörenswerte Musikerlebnisse: mal bin ich mit John Mayall im Laurel Canyon bei Bob the Bear von Canned Heat on the road, mal verfange ich mich in den Fallstricken beim Maxwell Silver Hammer, und mit Cat Stevens trinke ich ein Tässchen Tee beim Tillerman. Der Skypilot von Mitkommunarde Sternchen rettet mich vor einem Horrortrip, dann nässt mich der Regen des Frühlingsgewitters von Walter Carlos durch, und mit Joni Mitchell zusammen beobachte ich die beiden Katzen in Graham Nashs very very fine house. Mit grateful Jerry Garcia tanze ich auf der Strasse und bin an der Seite von Herby Man im Untergrund von Memphis: ich bade von morgens bis morgens in affengeiler Musik und muss aufpassen, dass ich nicht absaufe...

ittags - also ca. zwischen 18-20 Uhr - bekochen wir uns gegenseitig und treiben uns bei der Kreation neuer Nudel-Pfannen-Gerichte in kulinarisch immer höhere und  kochkünstlerisch bisher noch nie erforschte Dimensionen. Wenn es sie gegeben hätte - wir hätten auch Ameisenrüssel und Heuschreckenunterschenkel verarbeitet – doch auch ohne solche Zutaten sind unsere gemeinsamen Mahlzeiten (nach Verfeinerung durch extremen Gebrauch von Ketchup, Chili und Sambal Oelek) zünftiger und endgültiger Auftakt des Tages, schaffen eine gute Grundlage für das, was kulinarisch an Flüssigem oder Festem im Laufe des Abends noch wegzuarbeiten sein wird - und sie werden für den Zusammenhalt unserer Gruppe ein festigender Baustein. Sollten wir wider aller Erwartungen einmal Flut in unserer Kasse haben, dann gönnen wir uns bei unserem Chinamann im Nachbarhaus, wo normalerweise nur ´ne Frühlingsrolle "to go" drin ist, eine doppelte grosse Reistafel mit allem Furz und Feuerstein - und Curny haut sich als Vorspeise mal eben ein Töpfchen Sambal Oelek rein. Auch gerne in den Monaten mit *r hinten nehmen wir die extra scharfen Muscheln (die schärfsten in ganz NRW) im Stauder an der Oper zu uns, einer sehr gutbürgerlichen Gastwirtschaft gegenüber dem Grillo-Theater unterhalb des KZ. Hier sitzen wir eines nachmittags, schlürfen genüsslich unsere Muscheln und löschen mit einem kühlen Stauder nach, als sich ein gutgekleideter seriöser Herr zu uns umdreht, Schweiß auf der Stirn, Tränen laufen ihm die Wangen runter und er haucht mit letzter Kraft: "lecker, nicht wahr?" Recht hat er.


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DIE SACHE MIT DEN MÄDELS


Walter mit Begleitung beim 3. Essener 
Pop & BluesFestival in der Grugahalle Essen

ur Info: Wenn so gut wie fast nie oder nur andeutungsweise von Begegnungen mit dem anderen Geschlecht berichtet wird, so heißt das nicht, dass wir schwul sind (was bei einer 2-Mann-Boy-Group oft unterstellt wird). Leute: Ihr hättet mal das Gestöhne und Geschreie tagaus/nachtein miterleben sollen, das bei abdachigem Wind sehr gut noch auf der Straße unten zu hören war, vor allem Bernds akustische Anleihen bei Klaus Kinskis Interpretationen von Francois Villons Gedicht "Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lungen wund nach Deinem weißen Leib, Du Weib...". 
Denn sie kommen uns besuchen und sind uns sehr willkommen: nette neugierige Mädels aus gutem Haus, die ihrem bourgeoisem Umfeld entfliehen und eintauchen wollen in ein anderes ungezwungenes freies psychedelisches Leben - einmal, zweimal, manche für länger oder immer mal wieder...

Aus dieser Zeit stammt das "Liebeslied", ein Text von Thomas Rother, den wir von zwei auf drei Personen erweitert haben:

Frag uns nicht, woher und wohin
Frage uns nicht nach dem Sinn
Breite Deine Glieder aus
Nimm uns mit in Dein Haus.

Schreibe auf den Bauch uns Deinen Namen
Schreie laut: ich will Euch haben
Sage uns nicht, wer Du bist
Genug:  wir sind und Du bist.

Halt uns fest, doch halte uns nicht
Suche nicht in unserem Gesicht
Suche nicht nach Freude und Leid
Fang an – denn kurz ist die Zeit.

Heute sind wir Dreie uns nah´
Wer wird wissen, was morgen geschah
Träumend schläft die Welt gerade ein
Wir wollen wach heute sein
.

ch habe mich anfangs schwer getan bei der "Sache mit den Mädels". In meiner beschützten Jugend in einem christlichen Elternhaus ging es in der Erziehung von Anfang an um die Vermittlung moralischer Grundwerte (die mich später des Öfteren vor Abstürzen bewahrt haben), aber nicht um Sexualität. Bis zur Pubertät habe ich eigentlich nur mit zwei Personen weiblichen Geschlechts Umgang gehabt: meiner Mutter und meiner Schwester. Ansonsten tote Hose: mit den Volkschul-Mädels konnte ich nix anfangen - die wollten nicht mit mir auf der Trümmer spielen. In die Jungschar durften nur Jungs. Meine Schule hieß "Realschule für Jungen Essen-West": der Name sagt mehr als 1000 Bilder. Am Konfirmandenunterricht nahmen Mädchen teil, die waren körperlich 10 Jahre weiter als ich und gibbelten ununterbrochen - da lief mal garnix, und auf den Baustellen während meiner Lehrzeit malochten auch nur Männer. 


Walter, Toddy und Rolf von den "Night Revellers" nach einem Auftritt mit ihren "Groupies"

Erst mit meiner Skiffle-Truppe "The Night Revellers" geht es so langsam los - aber ich agiere in der Beziehung zum anderen Geschlecht zunächst sehr zurückhaltend - um das Wort schüchtern zu vermeiden. Manche Mädels finden das süß, dass sie nicht sofort überfallen wurden - andere sind schneller wieder weg, als ich gucken kann, weil ich nicht zu Potte komme: es ist wahrlich kein leichter Lernprozess. Als meine Mutter mich dann endlich aufklären will, hätte ich schon mehrfacher Vater sein können - zum Glück gibt es da bereits die Pille.
Das nur mal zur Klarstellung, denn Frauengeschichten sollen in diesem Buch nicht Thema sein.  Wobei, wenn ich so überlege - es könnte ein ergreifendes Kapitel werden mit wirklich herzzerreißenden und teils tragischen Geschichten...

Erinnerungen eines Alt-Hippies 

TODESANZEIGE DER WOCHE

ernhard richtet auf dem Flur ein schwarzes Brett ein, an das fortan der Putzdienst für die Gemeinschaftsräume (Klo/Dusche/Diele/Flur) angepinnt, der Frühstücks- und Kochdienst festgelegt und aktuelle Meldungen der einzelnen Kommunarden und sonstiger Mitbewohner ausgehängt werden: "Hat jemand versehentlich meine neue Unterhose angezogen? Wer benutzt meine giftgrüne Zahnbüste? Ist jemandem meine Ricky Shayne-Single Es wird ein Bettler zum König über den Plattenteller gelaufen? Mein Kühlschrank ist für alle da - mein Calve-Pindakaas (Erdnussbutter) nicht! Mitfahrgelegenheit nach Amsterdam gesucht etc". An einem besonderen Platz links oben auf dem Brett beginnen wir irgendwann damit, die „Todesanzeige der Woche“ auszuhängen. Wir arbeiten uns durch die deutschen Tageszeitungen (wenn wir irgendwo welche finden, denn wir selbst schauen in sowas nur rein, wenn etwas über uns drinsteht) und suchen in Nachrufen nach den herzerweichendsten Reimen und den erschütternsten Gedichten, wie z.B. 
Schloss auch dein müdes Auge sich, in unserem Herzen lebst Du ewiglich 
oder 
Im Leben warst Du stets bescheiden, schlicht und einfach lebtest Du. 
Mit allem warst Du stets zufrieden: nun schlafe sanft in stiller Ruh

Die unserer Meinung nach romantischste und ergreifendste Anzeige wird dann auf unserem Board veröffentlicht. Alle diese ausgewählten Verse sammeln wir, und die bewegendsten haben wir später auf der Flipper-Single-B-Seite in dem Lied „Einst kommt die Nacht, die lange dumpfe“ verarbeitet: es erzählt die Geschichte eines beliebten Mannes, der stirbt und dem seine besten Freunde am Grab ein stimmungsvolles Abschiedslied singen, woraufhin er  (also der Tote) - davon tief beindruckt und sichtlich bewegt - den Deckel noch mal aufklappt und seinen geliebten Kumpels nun seinerseits ein herzzerreißendes Good Bye zu Gehör bringt. 
Hier der Wortlaut dieses ergreifenden Werkes, bei dem uns einige namentlich nicht bekannte Texter und Schriftsteller dankenswerterweise den Großteil der literarischen Arbeit abgenommen haben: zumindest die Musik haben wir ganz alleine hinbekommen:

Einst kommt die Nacht, die lange dumpfe
wo Deine Freunde Dir ihr Mitleid schenken
und bei dem alten Mauerstumpfe
Deinen Body in die Grube senken

An Deines Grabes Rande stehen sie
in ihren feinen schwarzen Kutten
mit furchtbar wackeligem Knie
und das Herz tut ihnen bluten

So stehen sie dort mit leichtem Schauer
und singen dann mit großer Trauer:

"Du bist befreit von Leid und Schmerz
geliebtes altes treues Herz
nur Müh´ und Arbeit bis an Dein Ende
nun ruhen Deine fleißigen Hände
die immer gern für uns bereit
das danken wir Dir alle Zeit".

Und du denkst, wie schön die Zeit mit jenen war
und singst aus voller Brust ganz hell und klar

"Wir alle wandern durch das Tor des Lebens
 den Weg bis in die Ewigkeit
und alles Hoffen, Wünschen ist vergebens
der große Meister bestimmt den Lauf der Zeit

So tretet fort, ihr meine Lieben
nehmt Abschied, weint nicht mehr
Heilung konnt´ ich nicht mehr finden
meine Leiden waren viel zu schwer
Nun so ziehe ich von dannen
schließ die müden Äugelein zu
haltet innig treu zusammen
Und gönnet mir die ewige Ruh´"

Fotos: 
Jaques Schuhmacher


Für alle, die dieses Werk auch akustisch genießen möchten:
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UNSERE FLUGBLÄTTER

n dem Lied „wenn ich ein wenig fröhlicher wär´“ (siehe Text oben) sind unsere Erfahrungen auf der Kettwiger Straße und generell in der City sehr treffend beschrieben. Unter dem Motto von damals „macht kaputt, was Euch kaputt macht“ will „Sternchen“ Sternheimer immer wieder mal eine Bombe bei Karstadt platzieren – zum Glück für ihn und uns und die möglichen Opfer hat er nie Sprengstoff zur Hand – aber verbal war der Bau schon 10x weggeblasen. Wir persönlich gehen es langsamer und ruhiger an, sitzen auf den Sockeln am Burgplatz, kiffen so vor uns hin (die wenigsten der Passanten wissen, was da so qualmt und so gut riecht), blasen Seifenblasen über die Kettwiger und lassen den Herrgott einen guten Mann sein. Immerhin versuchen wir, die vorüber hastenden Passanten über unser (Nichts-)Tun zu informieren und vielleicht sogar zu inspirieren: Wir verteilen großzügig unsere selbstverfassten und per Matrizendrucker vervielfältigten Flugblätter, z.B.  „Wie drehe ich einen Joint“ mit der Anleitung für den großen 3-blättrigen – oder Auszüge aus dem „Almanach der Rauschmittel“ mit Wirkungsangaben - als bewusstseinserweiternde Weiterbildung "on the road" & "...to go".

einen 1. Joint, den ich nie vergessen werde, habe ich Mitte 67 in einer WG irgendwo in Frohnhausen genossen, und es war eine tolle und nachhaltige Erfahrung. Ich hatte zunächst Spaß ohne Ende, weil ich glaubte, alle Personen um mich herum zu durchschauen, ja ich erstickte fast an meinen Lachanfällen. Und ich „erlebte“ Musik, in der ich grade zu aufstieg in ungeahnte Höhen: so hatte ich Musik noch nie gehört. Um mich herum vertraute Umgebung, nette Menschen, die ich kannte und schätzte: ich fühlte mich rundherum wohl. 
Unbewusst habe ich damals alles richtig gemacht, und auch das wollen wir nun weitergeben. Unser Flugblatt mit der Anleitung „Wie nehme ich einen Trip richtig“ - 12 Regeln, die nützlich sind für Neueinsteiger, einen Trip richtig vorzubereiten und zu genießen und einen Horrortrip zu vermeiden, findet bei Eingeweihten und bei den Stellen, die sich mit Suchtproblemen auskennen, viel Zuspruch. Sie und wir wissen aus eigenen Erfahrungen: Verbote werden niemanden daran hindern, so etwas auszuprobieren. Wenn jemand einen Eigenversuch vorhat, sollte er sich aber unbedingt an einige Vorgaben halten, die wir ihm mit diesem Flugblatt an die Hand geben wollen und können:

Ein WITTHÜSER & WESTRUPP - Flugblatt:
Nur so nimmst Du Deinen Trip richtig
 

Wir haben viele Lieder in Trips und über Trips gemacht. Wir hatten gute Trips; viele Leute haben schlechte Trips. Warum? Sie haben sich nicht darauf vorbereitet, sondern sie wegen irgendeiner Mode konsumiert. Wir wollen euch helfen. Denn der Trip an sich ist nichts Schlechtes. Nur wer ihn falsch nimmt, der wird Ungutes erfahren. Was wir hier über den Trip sagen, gilt für Haschisch, Marihuana und LSD, aber NIE für Heroin. Nimm es nicht; es tötet dich. Und du wirst damit NIEMALS die Schönheit eines Trips erleben.

Aus der kanadischen Zeitung „Georgia Straight“ haben wir eine Reiseanleitung übernommen. Sie bezieht sich auf „Sunshine“, den stärksten und schönsten aller LSD-Trips. Wir haben sie etwas umformuliert - somit gilt sie allgemein für Trips - und auch für Hasch. Lies und beachte diese Regeln und denke immer daran: Trips sind Schlüssel, dir dein Leben und den Kosmos aufzuschließen. WER SIE GEDANKENLOS UND HEMMUNGSLOS FRISST, WIRD NIE DIE SCHÖNHEIT SEHEN! Trips sind gut für deinen Körper, für deinen Geist und für Deine Seele. Aber NUR, wenn du sie sinnvoll benutzt.

13 Regeln, die du dabei unbedingt beachten musst:

1.         Nimm den Trip als ein schönes, religiöses Sakrament!

2.         Plane Deinen Trip sorgfältig! Befreie dich wenigstens für zwei Tage von Job, Verantwortung und alltäglicher Routine. Dadurch hast du einen freien Tag für deinen Trip und einen weiteren freien Tag, auszuruhen und über ihn nachzudenken.

3.         Den Trip solltest Du in einer Umgebung nehmen, die für dich besonders angenehm ist! Es ist töricht, Acid in einer chaotischen Situation zu nehmen oder mit zu vielen Leuten um dich herum. Nimm es nicht bei einer Demonstration!

4.         Ein ruhiger Abend zu Hause oder ein Nachmittag in einem Park sind   gute Gelegenheiten.

5.         Habe beim Trip Musik, Essen und überhaupt Dinge in deiner Nähe, die  du besonders magst. Ihre Schönheit wir tausendfach gesteigert.

6.         Nimm den Trip nur, wenn du dich wohlfühlst. Nicht, wenn du depressiv oder traurig bist! Mische auf keinen Fall Acid mit größeren Mengen Alkohol oder anderen Drogen. Kaufe nur bei Leuten, denen du vertrauen kannst und die es selbst geprüft haben.

7.         Es liegt sehr an den Leuten um dich herum, wie dein Trip wird! Wähle sie sorgfältig aus. Du solltest sie unbedingt kennen und ihnen vertrauen können. Wer maximal reisen will, sollte es in kleinen Gruppen von zwei bis drei Leuten tun.

8.         Nimm deinen ersten Trip möglichst mit einem nahen persönlichen Freund, der genug Erfahrung mit Trips hat! Dein Freund sollte möglichst mehr oder weniger „unten“ bleiben, um dir helfen zu können, dich durch deinen Trip zu führen!

9.         Diskutiert, was jeder von euch für den gemeinsamen Trip vorhat – tiefe spirituelle Erfahrung, nahe persönliche Erlebnisse mit anderen Leuten, Verständnis von Musik oder was immer. So ist es auf jeden Fall einfacher, dorthin zu gelangen.

10.        Der beste Rat im Trip: Flute mit dem Trip! Hänge dich nicht an schmerzvolle Szenen; verliere dich nicht in schönen Szenen. Geräts du an etwas Unangenehmes, dann fixiere deine Aufmerksamkeit nicht darauf. Flute zu anderen Bildern... und du kommst zu neuer Schönheit.

11.       Denke daran, dass der Trip ein Werkzeug ist! Yoga, Meditation und Fasten sind andere Werkzeuge für visionäre Erfahrung. (Fasten vor einem Trip kann ihn erhöhen).

12.       Nimm die Visionen, die dir durch das Werkzeug gegeben worden sind, in dein praktisches, alltägliches Leben. Mit ihnen erfährst du unmittelbar Schönheit und Möglichkeiten all dessen, was unserer Zivilisation geraubt worden ist.

13.       Es braucht sehr viel Selbstdisziplin und viele harte Arbeit mit anderen Leuten, die Welt, die du jeden Tag siehst, durch eine Welt der Liebe zu ersetzen.

Vor deinem ersten Trip oder auch, wenn deine Trips bisher verkorkst waren oder du nur zufällig Glück hattest, solltest Du unbedingt die ersten Seiten von Timothy Learies Buch „Politik der Ekstase“ lesen. Das ist ein Muss! – Außerdem empfehlen wir folgende Bücher: Roland Gelpkes „Drogen und  Seelenerweiterung“ und Roland Steckels „Bewusstseinserweiternde Drogen".

 


Dieses unser wirklich gutgemeintes Flugblatt bringt uns prompt die Anzeige eines Pastors ein: er will es als Aufruf zum Drogenkonsum verstanden haben. Seine Klage wird schließlich abgeschmettert (das dauert aber noch recht lange - da leben wir schon in Dill und die ganze Angelegenheit wird beim königlich-hunsrückschen Amtsgericht zu Simmern verhandelt – und die wussten überhaupt nicht, um was es wirklich ging)


...eine schriftliche Stellungnahme reichte - und das Ding war vom Tisch

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STUDIUM

as Podium – wie schon gesagt – geht mit seinem Programmkonzept nach gut einem Jahr leider wirklich pleite. Neue Pächter mit anderem Konzept übernehmen den Laden und richten ihn neu aus. Leider sind wir für die Neuen als Angestellte nicht mehr bezahlbar - klar: gutes Personal kostet nun mal! Wir finden das logischerweise äußerst schade, aber als verzehrende Gäste schaffen wir vor Ort jeden Abend weiterhin unser Pensum weg (schließlich gehören wir zum Inventar und der Laden ist uns im Laufe der Zeit irgendwie an unsere Herzen gewachsen: es ist quasi unser 2. Zuhause mit Familienanschluss). Ab und an treten wir dort noch auf - für freien Eintritt & freies Trinken (das ist dann teuer genug für den Wirt) und testen auf der kleinen Bühne unser neuestes Songmaterial unter Konzertbedingungen - mit anschließender Diskussion.

Aber was können wir ansonsten mit unserer jetzt im Überfluss vorhanden freien Zeit Sinnvolles anfangen? Saufen, kiffen, gammeln, Musik hören und Mädels abschleppen? Oder mal wieder in die Lichtburg gehen und zum fünfzehnten mal M.A.S.H. gucken (gut - wir brauchen nix bezahlen, wir kennen den Filmvorführer). Nein: Wir suchen eine konkrete Aufgabe, ein Ziel, eine stilvolle Beschäftigung, eine emotionale Herausforderung, eine daseinsberechtigende Tätigkeit: eben etwas, das unserem Leben wieder einen Sinn gibt.

er suchet, der findet: da Gott und die Welt sowie alle, die wir kennen und kannten und auch all die Anderen, die wir bis dato noch nicht kennen gelernt haben, studieren oder studiert haben oder zumindest einmal in ihrem Leben an irgendeiner Uni eingeschrieben gewesen sein wollen, wird es für uns immer deutlicher: AUCH WIR WERDEN STUDIEREN!! Wir müssen studieren, um gesellschaftlich weiterhin akzeptabel zu sein und auf Dauer auch zu bleiben. Welcher Makel doch im Leben, wenn wir dereinst zugeben müssten: nein, wir haben nie nicht studiert.
Das Studium soll natürlich für uns nutzbringend sein, und somit drängt sich quasi von selbst (um musikalisch weiterzukommen und sonst sowieso nichts anderes in Frage kommt [ohne Abitur bist du für die meisten Unis irgendwie nur Luft]) zwangsläufig ein Musik-Studium auf. Folkwang-Schule ist zu elitär, also machen wir uns auf die Suche und bestehen auf Anhieb die Aufnahmeprüfungen am Konservatorium in Duisburg und schreiben uns dort ein: Bernhard für das Studium der Gitarre und ich für das der Zugposaune.

der gescheitelte slide-trpmboner The Guitarman...

 SO SEHEN STUDENTEN AUS...


Das 1. offizielle Pressefoto der 
Bernd Witthüser Sing- und Spielgemeinschaft 
(kurz SuSG)
auf ihrem 1. Bandauto

Wir kaufen uns von unserem letzten Geld einen alten klapprigen Opel bei unserem  Lieblings - Gebrauchtwagenhändler Reintges (damals klein aufm Hinterhof, durch die damaligen Umsätze mit uns dann irgendwann einer der größten Autodealer des Ruhrgebietes - da wir aber in letzter Zeit [!?] nix mehr bei ihm kaufen, jetzt Pleite) und düsen fortan Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe los und studieren wie die Wilden. Der Titel „Student“ tut unserem Ego ungeheuer gut (wird Zusatz auf unseren Visitenkarten), zudem lernen wir manch Sinnvolles für die Praxis (Fingerhakeln, Schiffe versenken, blau machen) als auch musiktheoretisches Grundwissen, ätzend und zäh und - wie früher Erdkunde in der Schule – im wirklichen täglichen Folk-Rock-Musiker-Leben aber einfach kaum anwendbar. 
ittags geht´s zurück in die Heimat, und da wir noch keine Aktienpakete in irgendwelchen  Depots in Macao haben und auch die Kontoauszüge generell einen Niedrigststand ausweisen, der weit unter der Überlebensgrenze von Studenten liegt, begeben wir uns notgedrungen in leibeigenschaftsähnliche  Beschäftigungsverhältnisse.
Ich fahre nachmittags mit meinem holländischen Bromfiets zur Essener Uhrenersatzteilfirma Flume Walter mit seiner "Maschine" auf dem Weg von der Uni zur Arbeit(natürlich nicht im Nachthemd!), wo ich die Artikel-Kartei auf ein neues Suchsystem umstellte (ich wusste bis dato gar nicht, aus wie vielen verdammt kleinen Teilchen eine simple normale Armbanduhr besteht und wie viele Marken es gibt – und dazu kommen dann noch Wecker, Wand-, Sans-, Stand-, Kuckucks- und Kirchturmuhren ...). Aber ich erledige meine Arbeit wohl oder übel und ganz zufriedenstellend (?) und werde diesmal nicht sofort nach 3 
Tagen direkt wieder rausgeschmissen.

Was mir bei dieser meiner Firma den meisten Spaß bereitet: einmal in der Woche spiele ich nun in der Betriebsportgemeinschaft Fußball im vorgezogenen halblinken Mittelfeld. Die Mannschaft verliert dank meiner hervorragenden Kondition und auf Grund meines immensen Lungenvolumens, das ich als Blasmusiker nun mal habe und das mich weite Wege gehen lässt, zwar weiterhin 2-3stellig, nein -  ich schieße sogar mal ein Tor (oder waren es gar 2(!]) und wir verlieren darob zum ersten und einzigen Mal nicht zu null - klar. Mit diesem/n Treffer/n führe ich bis zu meinem Ausscheiden einsam die interne Torschützenliste an. Ja gut: dieses "Bötschen" ist nicht so unser Ding, aber beim an- und abschließenden Feiern nach den Spielen sind wir mit weitem Abstand die Allerbesten..

Bernhard gibt derweil Gitarrenunterricht an der Volkshochschule in Essen – und so halten wir uns finanziell irgendwie am Leben: als studierende Sozialfälle ohne Unterstützungsperspektive leben wir glücklich und zufrieden am Rande des Existenzminimums in dem unerschütterlichen Bewusstsein, dass es irgendwann mal besser werden wird und wir die Mietrückstände ausgleichen können; ganz zu schweigen von den unbezahlten Platten-Rechnungen im Musikladen unten im Haus. Und auch die Deckel im Podium, die schon Wagenradgröße erreichen, wollen wir ja  irgendwann mal bezahlen können oder sollen oder so... Denn abends/nachts sind zum Ausgleich der Hormone und zur Pflege mit- und zwischenmenschlicher Beziehungskisten Besuchs- und Arbeits-Exerzitien im Podium oder POP-IN und/oder bei Ampütte angesagt – bis dem Morgen graut.

iese unsere wilde Studentenzeit dauert fast ein (!) ganzes langes Jahr, bis uns der Erfolg überrollt und wir (leider) nicht mehr die Zeit finden, unsere Dozenten mit unserem Wissen und Können zu ekstatischen Ausrufen wie „Mein Gott“ oder „Das gibt´s doch nicht“ bis hin zu „das hab ich ja noch nie gehört“ zu treiben: die haben uns bis heute nicht überwunden. „Meine“ Firma steht nach meinem Ausscheiden kurz vor dem Konkurs (niemand findet mehr etwas wieder) und den Gitarrenkurs von Bernhard übernimmt der Lautenspieler vom „Wanderclub Mandoline“ aus Essen-Steele/Süd – wir hinterlassen fast nicht zu schließende Lücken – aber das ficht uns nicht weiter an. Zu groß, zu mächtig sind neue Herausforderungen und Aufgaben, denen wir nun gegenüber stehen und die von uns zu bewältigen sein wollen (?), als dass wir noch einen müden Blick zurück hätten werfen können. (Das Leben ist eben manchmal sehr hart und wirklich ungerecht – aber Klasse). Außerdem sind wir durch unsere "Berufs"-Erfahrungen zu der Erkenntnis gekommen: abhängige Arbeit (und sei es nur ein Studium) ist Scheiße – sie hemmt einen nur bei der kreativen Bewältigung des Daseins / des Hierseins / des ICH-Seins!

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 KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG

DIE STADT ESSEN
Keine Altstadt, kein Fachwerkhaus
Stahl & Beton - ohne Pardon
doch ungebrochen und versessen
bin ich besessen von meinem Essen:
im schönsten Wiesengrunde - dem schönen Schönebeck

Liedtext aus "Downtown Essen" - WhcMP 2004 - Text & Musik: Walter Westrupp

ur Stadt Essen will ich - ja muss ich - an dieser Stelle ein paar  zugegebenermaßen recht subjektive Sätze los werden: hier leben wir, hier wirken wir, hier ist unser "Zuhause" und hier ist unser Publikum. Und dennoch...


Das schöne repräsentable nach dem Krieg wieder aufgebaute 
und dann doch endgültig abgerissene 
alte Rathaus der Stadt Essen

Essen ist eine Industriestadt im Zentrum des Ruhrgebietes (seinerzeit über 600.000 Einwohner), sie besteht aus einer Menge von Stadtteilen (ca. 50) und einer fast unbewohnten City - die im Krieg total zerbombt und deren übrig gebliebene repräsentablen Häuser wie das alte Rathaus (links) auch noch zugunsten von hässlichen unpersönlichen Waren-Häusern abgerissen wurden, um auch diese nach einigen Jahren wieder verschwinden zu lassen und durch noch hässlichere Betonburgen in 08/15-Architektur zu ersetzen: eine vorausschauende Stadtplanung ist nicht ersichtlich - es gibt hier so gut wie keine Verweilmöglichkeiten, keine Außengastronomie, keine Wohlfühloasen, keine gewachsene Struktur - nur Handel im Wandel.  
In die City fährt, wer dort arbeiten oder städtische Ämter besuchen oder eine größere Anschaffung in einem der Warenhäuser tätigen muß. Sonstige Anlaufpunkte sind abends ausschließlich Eventlocations wie angesagte Tanzpaläste (San Francisco, First Saloon, Top Ten für Teens und Twens) und die großen Lichtspielhäuser (mit der Lichtburg als größtem Kino Deutschlands vorneweg) - und die städtischen Kulturbetriebe wie Oper und Schauspiel: subventionierte Bühnen für die Eliten. (Ich werde nie den widerwilligen Gesichtsausdruck samt hochgezogenen Mundwinkeln und die abgespreizten Finger der Garderobenfrau im Grillo Theater vergessen, als ich bei meinem einzigen Theaterbesuch anlässlich Hochhuths Stellvertreter-Vorstellung meinen abgewetzten Parka dort abgab: dass sie mich nicht angekotzt hat, wundert mich heute noch...). Auch mit Jahrmärkten und Groß-Kirmes wird verzweifelt versucht, Menschen in die Stadt zu locken - klappt aber auch nicht so richtig.
n Essen verbringe ich meine gesamte Kindheit und Jugendzeit, hier bin ich aufgewachsen, groß geworden, zur Schule gegangen, konfirmiert worden, hab eine Lehre absolviert - und immer (bis heute) hier gewohnt: in Altendorf, Frohnhausen, Bergerhausen, Rellinghausen, Werden, Schönebeck... Hier erfahre ich hautnah, was Heimat heisst und wie und wo sich das wahre pralle Leben abspielt: in den Vororten. Viele dieser ehemals selbständigen Gemarkungen mit organisch gewachsener Infrastruktur sind (teils gegen ihren Willen) eingemeindet worden: Borbeck, Bredeney, Katernberg oder Kettwig - um nur einige zu nennen. Alle diese eingemeindeten Ortsteile bleiben aber relativ autark und sind nach wie vor die eigentliche Heimat ihrer  Bewohner. Vor Ort spricht der Schiedsmann Recht, die Lokalpolitiker sind persönlich bekannt, hier gibt´s Fußball- und sonstige Vereine, Schulen, Bergbaukolonien (wo in 3-Zimmer-Wohnungen teilweise mehrere Generationen zusammen leben), Kinos, Parks, die Bolzplätze, wo die Blagen bötschen, das Blasorchester und den Bürger- und Schützenverein, dessen aktive Mitglieder sich alle Monate wieder bei Ede in der Backstube zum Spanferkelessen bei Bier und Schnaps treffen: hier im tiefsten Wiesengrunde sind die Menschen im wahrsten Sinne "Zuhause". Und über allem steht die Kirche: in der wird getauft, konfirmiert, über die Botschaft gesprochen und irgendwann die letzte Messe gelesen. 

as kulturelle Leben findet größtenteils in Gaststuben statt: in den "gutbürgerlichen" Gaststätten mit Mittagstisch für die Rentner oder den urigen Eckkneipen mit Kegelbahn im Keller. Hier kann sich der Bergmann und der Herr Doktor (es ist eine hierarchiefreie fast reine Männerwelt bis auf das Personal) - aber alle anderen natürlich auch -  vom täglichen Arbeitsstress erholen und den Feierabend genießen: vor dem Wirt sind alle gleich. An der Theke wird geknobelt, bei ein oder zwei Stern-Bierchen und den dazugehörigen Klaren wird über Gott und die Welt, Fußball (RWE oder SWE?) wie auch Politik diskutiert und nebenher ein Mettbrötchen mit Zwiebeln und viel Pfeffer, ´ne warme Frikadelle mit Senf oder das obligatorische Solei samt Essig und Öl verdrückt - mit viel Glück gibts auch mal ´ne Taubensuppe, denn selbst die Wirte frönen dem Taubensport. In Spielautomaten wird Geld versenkt, in Hinterzimmern treffen sich die Skatspieler, hier stehen Flipper, Kicker und Billardtisch - der Platz zum Abschalten, der Raum zum Runterkommen. Und wer nicht selber kommen kann, lässt sich am Außenschalter, den viele Kneipen besitzen, das Bier in mitgebrachte Spezialflaschen für zuhause schaumfrei abzapfen. Es wird zusammen Karneval gefeiert, in den Mai getanzt. eine Raue auch mal bis in den frühen Morgen ausgedehnt - und am Jahresende treffen sich die Mitglieder des Kneipen-Sparvereins, die treu und brav jede Woche ihren Obolus in ihrem Sparfach versenkt haben, samt ihren EhegattInnen zur großen Auszahlungfeier am Buffet bei Musik, Tanz sowie jeder Menge Sprit: Highlight im Thekenjahr. 

ingekauft wird natürlich in den Geschäften direkt vor Ort oder auf den Wochenmärkten: für den täglichen Bedarf findet sich hier alles - ob beim Metzger, dem Bäcker, im Tante Emma-Lädchen und natürlich an der "Bude anne Ecke": da gibt et die Klümpkes für die Blagen und dat Fläschken Bier für die Männer. Ein oder zweimal im Jahr fährt man/frau, frisch frisiert und nett zurechtgemacht (um nicht zu sagen aufgetakelt) für besondere Anschaffungen wie Möbelkauf oder spezielle Kleidung in die Stadtmitte (der Slogan: Essen die Einkaufsstadt spricht das ja aus), anschließend geht es aber auf schnellstem Weg wieder zurück "nach Hause". Gleiches gilt für die auswärtigen Besucher: mal bei Karstadt reinschauen, über den Weihnachtsmarkt schlendern, die Lichtwochen besuchen, Schaufenster gucken, Wasserspiele an der Kruppschen Konsumanstalt am Limbecker Platz bestaunen - für einen längeren Aufenthalt fehlt es in diesem Geschäftelabyrinth aber einfach an Qualität: wer fühlt sich schon wohl in so einer Betonwüste?

Demzufolge ist der Großteil der City-Besucher herkunftsmäßig eher Kleinstädter und vom Bewusstsein her bourgeoise, der - wen wundert´s - seine Kinder an die Hand nimmt, wenn ein Farbiger entgegen kommt: "Komm her bei mich: da kommt ein Neger!". Oder mit Fingerzeig auf uns "Kuckma da, datt sind Gammler: nimm Dich ja vor die in Acht!". Pflastermaler werden von den Geschäftsleuten verscheucht, bei Straßenmusikern wird die Polizei gerufen. Wenn ich mit meiner Skiffle-Truppe "The Night Revellers" auf der Straße spiele, wartet in der Nähe immer unser Roady mit dem Bus bei laufendem Motor. Kommt dann die Warnung "Achtung, Bullen", rasen wir zu unserm VW-Bulli, springen rein, düsen los, um 3 Plätze weiter wieder rauszuspringen - und das Spiel beginnt von Neuem.

n dieser kalten Anonymität der City, wo es kaum Grün gibt, wo die Lebensqualität im Vergleich zu anderen Großstädten gegen Null geht, haben wir unseren Lebensmittelpunkt: hier schweben wir unter dem Radar der Bourgeoisie, die Mieten sind moderat - für uns und unsere Lebensweise ist das wie geschaffen. Unser Domizil befindet sich in einem der wenigen bewohnten Häuser mitten im Stadtkern auf der Viehofer Straße, ganz in der Nähe von unserem Stammlokal Podium sowie dem Pop In, einem angesagten Club in der Kreuzeskirchstraße zwischen Viehofer- und Rottstraße, wo Freaks und solche, die es werden wollen, mit Hilfe von psychedelischer Musik und ebensolchen Substanzen in ansprechendem Ambiente dem Alltag zu entfliehen versuchen. Des nachts, wenn diese Läden ihre Musik leise drehen und die Pforten schließen, ist die Stadtmitte wie ausgestorben - und nicht ungefährlich, da manch dunkle Gestalten hier ihren nicht ganz legalen Geschäfte im Schutz der Dunkelheit nachgehen und dabei ungerne gesehen und gestört werden möchten. Wir gehören natürlich nicht direkt zu diesem Klientel, von unserem Outfit her erinnern wir ja mehr an Jesus und seinen alten Kumpel Petrus, die auf wackeligen Beinen aus dem Essener Dom kommend nicht so genau wissend, woher und wohin. Und - wie unsere berühmten Vorbilder - werden auch wir verfolgt, wenn wir solchermaßen des morgens durch diese menschenleere Gegend nach Hause wanken. Wir werden immer wieder von Streifenpolizisten an- und aufgehalten, werden gefilzt und sollen unsere Daseinsberechtigung kundtun. Und da wir  - je nach Stimmungslage - uns diesem Begehren mit Vehemenz und den uns zur Verfügung stehenden körperlichen Kräften widersetzen, avancieren wir schnell zu (nicht gern gesehenen) Stammgästen in der Hauptwache am Weberplatz, wo es dann abschließend auch ab und an zu Handgreiflichkeiten kommt (und immer wieder fangen diese Bullen Polizisten mit dem Scheiß an). Wir haben wahrlich nicht provoziert (!) - Spaß gemacht hat es dennoch. Wir lernen somit: wo sich sonst niemand aufhält, fällt auch der unbescholtenste Einzelgänger auf - erst recht wenn er zu zweit auftaucht und langes Haar, Bart und Batik trägt. In Düsseldorf, Berlin oder München, eben echten Metropolen, in denen wir ab und an rein beruflich verweilen, fallen wir überhaupt nicht auf: niemand dreht sich nach uns um, niemand zeigt mit Fingern auf uns, niemand hält sein Kind fest...


Das Aufmacher-Foto für einem Stern-Artikel über das OHR-Label mit der Überschrift:
Sind das die Stars von morgen?

ie unpersönliche City ist für uns als Subkulturler natürlich ideal: hier gründen wir unsere 1. Kommune, hier verschrecken wir die Passanten als 1. Hippies, hier können wir auf eine nette Art Bürger aufschrecken: nicht von ungefähr entsteht in dieser Zeit der Begriff "Bürgerschreck". Bernd, der diesem Bild in idealer Weise entspricht, versucht einmal, mit einem 1000-DM-Schein (war die Gage für einen WDR-Auftritt) einen Badezimmerteppich zu bezahlen. Nachdem die Verkäuferin eines bekannten Kaufhauses ihn sowie den Geldschein ausgiebig begutachtet hat, sich anschließend mit 3 Kolleginnen beraten und abschließend noch den Abteilungsleiter in ihren Entscheidungsprozess mit einbezogen hat, teilt sie Bernd ohne Bedauern mit, dass sie sich außerstande sieht, diesen Schein zu wechseln. Ein Gammler mit einem 1000,- DM-Schein: da muss doch was faul sein. Also hat Bernd den Schein bei der Bank klein gewechselt - und den Teppich in einem anderen Geschäft gekauft.     

Hier fällt nicht auf, wenn wir auf dem Burgplatz direkt neben dem Essener Münster den einen oder anderen Joint rauchen (kennt ja kaum jemand, nicht mal die Bullen Polizei, und rauchen ist ja auch nicht verboten...). Ich gehe auf LSD arbeiten in "meiner" Uhrenersatzteilfirma, ohne dass irgendjemandem meine großen Pupillen aufgefallen wären. Wir halten den Ball flach und passen uns nach außen hin soweit es geht an - klappt auch meistens. Ich fahre im Nachthemd auf meinem Mofa Brötchen holen, wir können musizieren oder Musik hören, wann und wie laut wir wollen, ohne dass ein Nachbar unter die Decke klopft oder uns die Sicherungen raus dreht.

Bernd, Walter und Curny mit Karlchen auf der Essener Kettwiger
Bernd, Walter und Curny mit Karlchen beim Stadtgang 
auf der Kettwiger Str. in Essen

 Und - das muss hier auch mal angesprochen werden: keiner von uns ist auf das Arbeitsamt angewiesen: jeder sorgt für seinen Unterhalt selber: ob als Taxifahrer, Musiker, Kellner, Discjockey, Verkäufer, Hilfsarbeiter, Zappes, Musikmanager etc..Einige gehen sogar - entsprechend verkleidet - einer ganz normalen quasi bürgerlichen Tätigkeit nach: es gibt viele tolle Jobs bei der Post und der Stadt, wenn man sich das tatsächlich antun will..  
Wir sind sowieso der Meinung: unsere Eltern schulden uns unseren Lebensunterhalt - DIE haben uns ja schließlich in diese Welt gesetzt! 

Wir führen hier relativ unbehelligt ein gutunbürgerliches freies Leben. Einige - zum Glück nur Wenige - stürzen dennoch irgendwann irgendwie ab, verlieren sich, wieder andere ziehen ihre ganz eigene Art von Karriere durch - Stichwort: vom Revoluzzer zum Spießer. P.G. Hübsch (der sich später Hadayarullah nennt) hat den Werdegang eines solchen Spezies so treffend beschrieben, dass wir seinen Text als Song in unser 1. Programm aufgenommen haben. Leider ist dieses Lied nie auf Platte erschienen, aber ich habe eine uralte Live-Aufnahme in meinem Fundus aufgetan und möchte Euch diese trotz fehlender Qualität nicht vorenthalten: "it´s all over now" oder "Billy von nebenan war ein ganz irrer Vogel":

enn nichts Anderes anliegt, dann ist nachmittags „Stadt-Gang“ angesagt: wir treffen uns mit anderen "langhaarigen Gammlern", sitzen auf "unseren" Sockeln an der Bugplatz-Treppe, werden von den Spießern begafft und begaffen die Spießer, blasen Seifenblasen über stehen gebliebene Passanten, quatschen, rauchen, machen Musik und freuen uns des Lebens. Wir sind mittendrin und frohgemut dabei, haben den Kopf voller toller Ideen und leben kreuzfidel und quietschvergnügt in jeden neuen Tag hinein.
Es gibt ansonsten nur einige wenige, aber sehr wichtige Anlaufstellen für uns hier in "the City of Essen": zunächst die Kettwiger Straße zum Spießer-Gucken und -Erschrecken. Dann das KZ (städtisches KulturZentrum) am Grillo-Theater: hier trifft sich der harte Kern zum Aufwärmen, Diskutieren, zur Absprache von irgendwelchen Aktionen - und hier gibt´s für kleine Maus Warmes zum Essen - inkl. Tabasco und Sambal. Im Schatten des Grillo-Theaters liegt die Theaterklause, wo wir Redakteuren, Theaterleuten und anderen Künstlern bei einem Weinchen begegnen können. Und des nachts, wenn alle Kneipen dicht sind, finden sich Nachtschwärmer sämtlicher Couleur in der alteingesessenen Ampütte im Stadtteil Essen-Rüttenscheid ein, wo es auch nach drei Uhr morgens noch was auf den Teller gibt und man bei einem frischgezapften Stauder mit interessanten Zeitgenossen an der Theke anstoßen und quatschen kann.

Für unsere Musik besonders wichtig ist das Jugendzentrum  an der Papestraße in Holsterhausen, am Rande der City und ganz in der Nähe von Bernds Elternhaus.

Dort gibt der Leiter Bernhard Graf von Schmettow (und später auch sein Nachfolger Günter Kropp) uns und vielen Essener Bands und Musikern eine Heimat: hier können sie proben und müssen sich fortan nicht mehr in einem feuchten kalten Keller die Finger abfrieren - und er stellt für Auftritte Räume und Säle zur Verfügung, um Gruppen die Möglichkeit zu geben, das Geprobte vor Publikum einem ersten Härtetest zu unterziehen.

JZ Essen 1.jpg (209302 Byte)m JZ können Musiker zudem Kontakte zu anderen Künstlern aufnehmen - egal ob Beatband, Jazzformation oder Folk-Gruppe. Unsere ersten Konzerte bei Kerzenlicht und Rotwein mit den "Liedern von Vampiren, Nonnen und Toten" veranstalten wir im schönen kleinen Keller-Saal des JZ - ohne große Anlage, Kissen auf dem Boden, leise und akustisch.

Das hauseigene Kino im Jugendzentrum ist angesagter Raum zum Knutschen und Fummeln - mit einem erstklassigem Programm, zusammengestellt und vorgeführt von H. P. Hüster (+ 2020), der später die "Essener Filmtheaterbetriebe" gründet, zu dem neben vielen kleinen feinen Filmtheatern mittlerweile auch Deutschlands größter Filmpalast - die Lichtburg - gehört. Mit seinem damaligen Mitarbeiter Horst Horriar ("Messrs. Hulot") drehen wir in den Räumen des JZ den avantgardistischen Musik-Kurz-Film "Konzert für Rock-Band, Sinfonieorchester und elektrische Kaffeemühle" - und einige Sequenzen für den Teebeutelhochebmaschinen-Film (z.B. die Schöpfungsgeschichte) entstehen in den Werkstätten des JZ - wo anders hätten wir so etwas drehen können? (Mehr dazu im Kapitel TEHOMA).

ir ziehen viele solcher verrückten und/oder außergewöhnlichen Aktionen durch, hinter denen immer auch ein kleines Häkchen versteckt ist und mit denen wir im Gespräch bleiben - ob mit geheimnisvollen Zeitungsannoncen-Serien, wo erst beim xten Inserat die Auflösung erfolgte (z.B. die Bekanntgabe des nächsten W&W - Konzerttermins), mit kleinen selbstgefertigten und -vervielfältigten Comics sowie anderen spaßigen und hinterlistigen Agitationen und Aktionen (teils näher beschrieben im Kapitel TEHOMA). Der Zusammenhalt durch die vielen gemeinsamen Unternehmungen wird enger, wir komponieren zusammen, treten jetzt öffentlich als Sing- & Spiel-Gemeinschaft (kurz SuSG) auf, saufen zusammen, leben zusammen in der Kommune: da entstehen einfach verrückte Dinge, die in einer mehr oder weniger verknöcherten engstirnigen Umgebung aus dem Rahmen fallen. Die Presse greift sowas gerne auf (wir weisen aber auch teilweise äußerst dezent darauf hin), und Reaktionen auf diese Artikel gipfeln manchmal sogar darin, dass "gute Freunde" meiner Mutter nahelegen, sich doch von mir zu distanzieren ("Luise, das habt ihr nicht verdient!!!" - Antwort: "kümmert Euch um Eure Kinder!"). Ich bin ja nun weder kriminell noch liege ich irgendjemandem auf der Tasche (nicht mal dem Staat) - und manches findet Mutter auch ganz nett - akzeptiert es zumindest (bis auf meinen langen Bart und den speckigen Parka).

Neben allen unseren gar vielfältigen Aktivitäten sind wir nun des Öfteren in Sachen "Musike" unterwegs, geben erste Konzerte und haben unseren 1. Fernsehauftritt im Wartesaal des  Bahnhofs Baden-Baden, wo neben uns alle namhaften Liedermacher wie Süverkrup, Degenhard, Insterburg & Co., Schobert und Black, Reinhard May, Hannes Wader und weiß der Henker wer noch alle dabei sind und als Vorgruppe für uns agieren dürfen...

Hier ist unser Beitrag zu sehen und zu hören:
Das "Kinderlied für Erwachsene" (Musik: Bernd Witthüser, Text: Thomas Rother)

 

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STADT ESSEN

Und dann liegt da noch diese unangenehme Angelegenheit unerledigt herum: 

MEINE KRIEGSDIENSTVERWEIGERUNG 
ein unendliches Verfahren


Nur ein Joke - Waffe war nicht geladen - 

en harten Dienst am/fürs Vaterland (siehe Bild oben) habe ich heldenhaft und ohne nennenswerte Verletzungen abgeleistet und überstanden - nur: das war ja quasi gewissermaßen Späßchen in Friedenszeiten. Mir wird mit etwas Abstand klar und deutlich: noch mal willst Du so etwas nicht mitmachen - vor allem nicht, wenn´s mal richtig kracht. 

Bei meiner ehrenhaften Entlassung aus dem Dienst fürs Volk habe ich ein off. Schreiben vom Bundesminister für Verteidigung erhalten, in dem er mir unter dem Blausiegel der Verschwiegenheit mitteilt, dass ich mich im Ernstfall an einer Brücke (welche sage ich nicht, das ist Geheimsache - und ich bin entsprechend vergattert) einfinden soll, um diese zu verteidigen! Watt soll ich? Ich habe doch nur kellnern und Billard spielen gelernt während meiner "Ausbildung"! Daher nehme ich an, dass ich dort die aktiven Kämpfer mit Getränken versorgen soll - im Granatenhagel einen Caipirinha servieren - und vielleicht ein bisschen Ukulele spielen im Bombenhagel. Aber wer hört mir da zu?  Neee, das kann es doch nicht sein.

ch beschließe nach schwersten inneren K(r)ämpfen, den dornenreichen und langen Weg eines Kriegsdienstverweigerungsverfahrens zu beschreiten. Ich bereite mich mit Freunden/innen, Insidern, Rechtsanwälten sowie sonstigen Fachleuten aus unserem Dunstkreis auf dieses Verfahren vor und formuliere meinen Antrag nach bestem Wissen & Gewissen. An einem verregneten Tag Ende September 1969 werfe ich ihn - unterschrieben und ausreichend frankiert - in den Briefkasten.

Flugs nach 2 Monaten werde ich aufgefordert, diese meine Gründe (in Ruhe) noch einmal ausführlich und schriftlich so zu fixieren (Werdegang, berufliche [?] Pläne, Lebenslauf, Hobbies, gemeinnützige Tätigkeiten etc.), auf dass die Jury bei ihrer Entscheidung meine gesamte Persönlichkeit und mein sittliches Verhalten entsprechend zu berücksichtigen in der Lage sein könne. Zudem solle ich 2 Zeugen namentlich mit Postleitzahl (also wohl festem Wohnsitz) aufbieten, die meinen drängenden Wusch und die innere Qual, die Ursache dieses Verlangens nach Verweigerung sei, bestätigen können.

ie ersten Punkte erfülle ich schnell - da haben meine Berater genügend Vorlagen (auch wenn es damals das Internet noch nicht gibt). Jetzt noch 2 Zeugen. Da ist zunächst unsere langjährige Weggefährtin Bärbel Saß, die mir schriftlich bestätigt, dass ich schon immer (also solange sie mich kennt) gegen Krieg bin. Das untermauert sie mit Zitaten und Aussprüchen, die ich während verschiedener Gelegenheiten von mit gegeben habe (an einige konnte ich mich selber gar nicht mehr erinnern...):
 auf einem Sockel am Burgplatz sitzend und ein Soldat in Uniform geht vorbei: 
"Das sieht nicht gut aus - sowas möchte ich nie wieder tragen."
 auf einer Fete bei Kuno, als sich mir ein Mädchen mit den Worten verweigert, ich solle auch mal an die armen Soldaten in Vietnam denken: die könnten auch nicht immer, wenn sie wollten: "Siehst Du: Krieg ist Scheiße!"
 als wir auf dem Weg zu einer Demo an einer Kaserne vorbeikommen:
"Die armen Schweine da drin - was haben die denn vom wirklichen Leben?"
 bei der Durchsicht einer Underground-Zeitung, in der ein Paar beim Beischlaf abgelichtet ist:  "Es dürfte nur noch mit den Waffen der Liebe gekämpft werden!".
 als ich einmal von Erich Dittges mit dessen Frau im Bett überrascht wurde (in Erichs Bett): "Erich, wir müssen diese Sache gewaltlos bereinigen."
 als ich "Tolkien" lese: 
"Schon in der Literatur ist Krieg furchtbar - wie dann erst im wirklichen Leben."

ls zweiter Zeuge ist Bernhard "Clear light" Witthueser benannt, Mitbegründer der von uns ins Leben gerufenen Jesus-Pilz-Bewegung (?!). Leider liegt mir das Originalschreiben nicht mehr vor, ich weiß aber noch von vielen Brösel-Zitaten aus dem Positionspapier der Bewegung, die hier angeführt werden und für uns ja nun quasi Gesetz sind. Sie allesamt untermauern, dass ich wie ein Apostel einzustufen sei und meine religiösen Grundwerte mir daher den Dienst an und mit einer Waffe absolut verbieten. Das Schreiben ist mit Buntstiften wunderbar ummalt, Fliegenpilze und Hanfblätter sind auf wundersame Art mit eingearbeitet: geradezu ein Kunstwerk - eigentlich viel zu schade für einen Kriegsdienstverweigerungs-Ausschuss. Das alles zusammengepackt in einen Umschlag schicke ich im Dezember 69 auf den Weg ans Kreiswehrersatzamt in D´dorf.

Ende April 70 werde ich zu einer mündlichen Verhandlung vorgeladen. Leider kenne ich mich in Düsseldorf nicht so richtig aus und bin zur geforderten Zeit in Duisburg (da weiß ich besser Bescheid - hier bin ich schließlich drei Mal gemustert worden). Die kennen mich auch noch, sind sehr hilfsbereit und erklären mir den Weg nach Düsseldorf, und mit nur 75-minütiger Verspätung erreiche ich abgehetzt den Ausschuss, aber da wollen die mich nicht mehr vernehmen mit dem vorgeschobenen  Argument, ich hätte keinen gültigen Personalausweis dabei. Was brauch ich einen Ausweis, wenn ich persönlich anwesend bin...?

Eine erneute Einladung geht (wahrscheinlich wie immer auf dem Postwege) verloren, so dass ich nicht persönlich anwesend sein kann/darf, was dem Ausschuss wohl sehr lieb ist: er entscheidet im Mai 1970 gegen mich mit der Begründung, ich müsste mir die Aussagen meiner beiden Zeugen anlasten lassen... Mein Antrag wird abgelehnt.

Das trifft mich schwer - aber es wirft mich nicht aus der Bahn. Nachdem wir die Jesus-Pilz-Bewegung in Deutschland ausgiebig publiziert und unsere Missionarstour durch die deutschen Kirchen hinter uns gebracht haben, schlage ich dieses bisher unbefriedigend verlaufene Kapitel wieder auf. Im März 1972 formuliere ich von Dill aus (wo wir jetzt unser Domizil haben) meinen Einspruch wie folgt:

Sehr geehrte Herren, liebe Freunde, liebes Kreiswehrersatzamt,
bezugnehmend...blah blah...meine Gründe:

1. Ich bin religiöser Musiker und Missionar, also oft unterwegs, und das meist für längere Zeiträume. Daher erreicht mich Post (die ich mir immer hinterherschicken lasse) oftmals verspätet: denn kommt die Post dort an, bin ich meist schon wieder weg. Deshalb bitte ich, mir Vorladungen zu von Ihnen anberaumten Terminen mit einer Frist von mind. 1 Jahr Vorlauf zu schicken - das müsste für Sie doch eine Kleinigkeit sein.
2. blah blah
3. Ihre Begründung, meine ernstgemeinten und ehrlichen Argumente seien "sophistische Gedankenverdrehungen", gehen in keinster Weise auf den Kern meiner schweren Gewissensnöte ein.
4. blah blah
5. Wenn mir die Aussagen des Zeugen Bernhard "Clear Light"  Witthüser, den ich wegen seiner tiefen religiösen Einstellung schätze und hoch verehre und auf dessen moralisches Urteilsvermögen ich allergrößten Wert lege, von Ihnen "zur Last gelegt" werden, dann ist das  nicht nachzuvollziehen (auch von allen meinen Freunden, Bekannten, Verwandten nicht): alle seine Aussagen sprechen doch für mich. Aber das können Sie nicht verstehen, wenn Sie einen Staat vertreten, der ohne Zögern Menschen zeigt, die Gewalttaten verüben, der es aber ablehnt, ein Paar beim Beischlaf zu zeigen. Da stimmt doch etwas bei der Wertsetzung dieses Staates nicht. Ich bin der Meinung, dass die Menschen ständig miteinander schlafen sollen, wann immer sie wollen. Dies ist die Anerkennung der Realität, die mich umgibt und alle meine Freundinnen und Freunde auch (Abs. II der Jesus-Pilz-Bewegung-Grundsatzerklärung).
6. In meinem Leben versuche ich, meinen eigenen Weg zu gehen: weg von Realitäten, die "ihre" Zivilisation geschaffen hat. Ein Dienst mit der Waffe für "ihre" Gesellschaft, die nicht die meine sein kann, ist für mein Gewissen unmöglich und steht im krassen Gegensatz zu Abs. III der "Jesus-Pilz-Bewegung-Grundsätze", die hier die "Revolutionsziele der Yippies" neuformuliert: totale Entwaffnung aller Menschen, angefangen bei der Polizei und bei der Armee. Das schließt alle Waffen ein, also neben Gewehren, Pistolen, Raketen, sämtlichen ABC-Waffen auch Gummiknüppel, -geschosse und Totschläger etc.
Da ich davon ausgehe, dass diese meine Auffassungen Ihnen nachvollziehbar aufzeigen, dass ich nicht der rechte Kämpfer für "ihre" Ideen bin, schicke ich Ihnen anbei schon einmal vorab meinen Wehrpass zurück: bei Ihnen ist er besser aufgehoben.
In der Hoffnung, nichts mehr von Ihnen zu hören, verbleibe ich
mit fröhlichem Gruß und Grüß Gott
W.W.
P.S. Viele Grüße auch von meinem Freund Bernhard Witthüser

ja, das sitzt, dachte ich: Wie gesagt: wir schreiben März 1972. Doch schon zwei Wochen später wird mir mitgeteilt, dass ich diesen meinen Einspruch verspätet eingereicht habe (Frist war angeblich Mitte Juni 1970 abgelaufen). Aber: was sind zwei Jahre, wenn´s um mein Gewissen, wenn es um meine ehrliche innere Überzeugung geht: die wechsele ich doch nicht jährlich wie meine Unterhose...

Die Sache ruht jetzt, aber in mir sieht das ganz anders aus. Täglich überkommt mich beim morgendlichen Gang zum Briefkasten ein beklemmendes Gefühl, und ist ein länglicher blauer Brief im Kasten, falle ich jedes Mal in eine tiefe Ohnmacht: das muss der EINBERUFUNGSBEFEHL sein. Ich öffne irgendwann überhaupt keine blauen Briefe mehr (habe ich als Kind auch nie gemacht), verklebe sogar kurzzeitig den Briefkastenschlitz. Aber da erreichen mich die überlebenswichtigen GEMA-Abrechnungen nicht mehr - also geht das Zittern weiter.

Und dann, im Jänner 1979, ist das Schreiben da: nach unendlich langen 3 Wochen kann ich mich überwinden und plane die Öffnung. Wie bei einer Bombenentschärfung habe ich alle Familienmitglieder und die Hunde fortgeschickt. Ich gehe in den Keller: bei Kerzenlicht reiße ich vorsichtig den Umschlag auf: Jawohl - betrifft meinen Einberufungsbescheid. Ich lege mir das Seil um den Hals - aber es ist kein Stuhl da. Ich will mir die Tränen abwischen - und habe auch meine Taschentuch vergessen. Also nehme ich das Scheiben (dann ist es doch wenigstens noch für etwas gut) und will mir die Tränen damit abwischen - da sehe ich, dass dieser Bescheid meinen bisherigen Einberufungsbescheid für den Verteidigungsfall aufhebt und ich mit einem neuen Bescheid vorerst nicht zu rechnen habe.

YIPPIE - ich habe überlebt.
Aber 10 Jahre Papierkrieg reichen mir vollkommen:
Friede auf Erden


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68er nach Noten - Kapitel 3: Viehofer Str.15
 
© 2003 by Walter Westrupp - letztes update November 2021