INTERNATIONALE ESSENER SONGTAGE 1968 
25.09.-29.09 1968

Erinnerungen von Walter Westrupp
(Auszug aus seinem Online-Buch 68er nach Noten)

Wenn ich ein wenig fröhlicher wär´
und hätte Mut ein wenig mehr
auf einer Wiese würd´ ich liegen
und Seifenblasen in den Himmel schieben.

Ich würd´ auf alle Schulden scheißen
Wechsel, Schecks und Ähnliches zerreißen
und einen Teufel mich darum scheren
was die verfluchten Folgen wären

Ich würd alles, was ich hab, verkaufen
dann fressen, kiffen, ficken, saufen
den Bürger, der da motzt, erschlagen
und den Sprung ins ewige Feuer wagen.

Witthüser & Westrupp von der LP "Nonnen, Tote & Vampire"

Ich weiß gar nicht, wie oft ich in den letzten Jahren gefragt worden bin: "und wie hast Du die Internationalen Essener Songtage erlebt?" Jetzt, wo sich dieses Datum zum 50. x jährt, kommen vermehrt Interviewanfragen auf mich zu und auf der Suche nach Zeitzeugen werde ich gefragt:
• was hat sich für Dich, Dein Leben, Deine Wahrnehmung danach geändert?
• hatten die Songtage Einfluss auf Deine Musik, auf Dein Umfeld?
• hat sich in der Gesellschaft etwas verändert?
Das schreit ja förmlich nach einer Besinnung auf das, was damals war...

ie Situation Ende 1967 ist wirklich nicht einfach für mich. Bernd Witthüser hat mir meine Freundin "Bimbo L." ausgespannt, geschwängert und geheiratet. Das mit der "freien Liebe" und dem "Was mein ist, ist auch Dein" hatte ich da wohl noch nicht so richtig verinnerlicht und gerate in eine Sinnkrise: schwerer Liebeskummer treibt mich in eine tiefe Depression. (auf dem Foto rechts ist meine Welt noch in Ordnung...),

Ich meide fortan das Podium - was ja für mehr als 1 Jahr mein zuhause geworden ist - sehe meine Freunde nicht mehr, ziehe mich total zurück. Für kurze Zeit quartiere ich mich wieder in mein altes Jugendzimmer bei meinen Eltern ein, merke aber schnell, dass dieser Zustand keine Dauerlösung sein kann. Ich lasse meine Beziehungen spielen und lande relativ schnell in Bünde/Westfalen, wo ich mich in einem Etablissement als Discjockey verdinge. Kost und Logie frei im Haus bei den Barmädels: da komme ich schnell auf andere Gedanken (siehe Bild links). Als nach 3 Monaten der Laden abfackelt, geht es flugs zurück nach Essen - Heimweh ist eben noch schlimmer wie Liebeskummer. Auch hier in der Heimat werden Discjockeys gesucht und gebraucht, und so arbeite ich eine ganze Zeit in verschieden Diskotheken (Kaleidoskop, Pferdestall, Black Horse), lege Platten auf und unterhalte das Publikum mit Witzen, Sprüchen und Spielen.

Einige der alten Kumpels von früher kontaktieren mich dann wieder, wir treffen uns tagsüber - ich arbeite ja des nachts - hören Musik, rauchen und quatschen über Gott und die Welt. Uns bewegt in jenen Tagen so Einiges: das Leben um uns herum gerät ordentlich in Bewegung. Auf der einen - der großen Seite - die "Bürgerlichen", eben die, die das Sagen haben, eingebunden in ihren Trott und behaftet mit dem Muff der Kriegs- und Nachkriegszeit. Auf der anderen Seite die "Revoluzzer", die APO, die politischen Außenseiter, die aktiven Studentenverbände, die das herrschende System in Frage stellen. Und mittendrin irgendwo dazwischen: die mehr oder weniger unpolitischen, die ihr eigenes Ding machen, die sich ohne Revolution selbst verwirklichen, die sich eine eigene Freiheit, eigene Freiräume schaffen wollen. Bezeichnend für uns und unsere Situation in der damaligen Zeit ist dieses Foto: ein Farbklecks in grauer Landschaft - so fühlen wir uns auch...

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Wir wollen - zunächst mal für uns selber - Farbe in unser Leben bringen, inspiriert durch das, was wir im Fernsehen sehen, was wir in der sogenannten "Underground"-Presse lesen und was durch die Musik zu uns schallt: Flower Power. Wir hören Musik von Jefferson Airplane, Grateful Dead, Big Brother & the Holding Company, Frank Zappa, Quicksilver Messenger, Country Joe & the Fish etc.. Wir verstehen die Texte größtenteils zwar nicht, aber wir hören die Botschaft. Wir missbrauchen alte Diaprojektoren mit Acethylen und Farben und fabrizieren unsere eigenen Lightshows, wir ziehen uns bunt an und den einen oder anderen durch. Wir bilden eine kleine freie Gemeinde in einem wilden, feindlichen Land, verschrien als Gammler, als arbeits- und lichtscheues Gesindel, als Abschaum: "bei Adolf..." Aber da stehen wir drüber und lächeln zurück.

Dann der Schock: im April greift mein Einberufungsbescheid und ich muss meinen 18monatigen Wehrdienst antreten. Während dieses meines Wehrdienstes (zunächst Grundausbildung zum Richtfunker in Köln) werde ich aufmerksam auf eine große Sache, die in Essen bevorsteht. Im Blätterwald rauscht es verdächtig, Volkes Seele wird angestachelt: da sollen Langhaarige, Protestler, Hippies aus Amerika, diese Teufelsklicke aus Berlin und was immer für Typen in der Grugahalle in Essen auftreten – die Essener Songtage werfen ihre Schatten voraus. Viele der angekündigten Musiker - vor allem die deutschen - kenne ich teils persönlich von der Waldeck, aber die Fugs, die Mothers, Frank Zappa, Xhol etc. will ich unbedingt sehen. Im Fernsehen laufen Interviews mit verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern, die den Tenor haben: die sollen alle da bleiben, wo sie jetzt sind. Originalton: "Sollte mein Sohn dort hingehen, schlage ich ihn tot!" Wie schon gesagt, Essen ist nun mal keine Großstadt wie München, Düsseldorf oder Berlin. Essen ist ein Zusammenschluss von vielen Vororten, nicht weltoffen, sondern provinziell - von daher passt so eine Veranstaltung eigentlich gar nicht hier her - wir alle sind äußerst gespannt...

n den Medien wird ordentlich Wirbel gemacht, und ich als neugieriger wissbegieriger Wassermann setze alles daran, an diesem Wochenende „Heimaturlaub“ zu bekommen. Mit einer Rekruten-Fahrgemeinschaft komme ich freitags abends in Mülheim bei meinen Eltern an, und am Samstagmorgen fahre ich mit der Straßenbahn in Richtung Essen. Alles ist ganz normal in der Bahn "Linie 18", bis an der Haltestelle Hobeisenbrücke ein ganzer Schwung „Unbürgerlicher“ den Waggon stürmt: sie kommen vom Jugendzentrum Essen, wo eine „Außenstelle“ der Songtage eingerichtet ist. Beim Umsteigen am Essener Hauptbahnhof zur Grugahalle geht es dann schon richtig ab: Jungs und Mädels im Parka, mit Schlaf- und Rucksäcken, es wird geraucht und erzählt und gesungen und gelacht, ein Sprachgewirr ohnegleichen. Mir schießt es in den Kopf: hoffentlich merkt hier keiner, dass ich Soldat bin: die steinigen mich - oder bieten mir einen Joint an. Aber alles bleibt friedlich, es gibt keine Agressionen, keinerlei Probleme, sondern eine harmonische Grundstimmung liegt über allem. 

Beim Anblick der Grugahalle überrollt es mich dann endgültig: junge Menschen soweit das Auge reichte, bunt, fröhlich, offen und locker - wobei auch revolutionäre Töne nicht zu überhören sind. Fernsehstationen haben ihre Aufnahmewagen aufgebaut, der Rundfunk ist natürlich auch am Start und Fotografen sind vor Ort: Motive sind ja zu Genüge vorhanden. Die größte Traube bildet sich anfangs um die Jungs und Mädels der Kommune 1 aus Berlin (Teufel, Langhans und Co.), aber schnell wende ich mich wieder dem eigentlichen Geschehen zu. Ich habe 1965 die Stones in dieser Halle erlebt, aber das hier kommt mir schon allein von den Menschen her ein paar Nummern größer vor – und irgendwie total anders. Ich sehe vereinzelte Polizisten, die sich aber mehr im Hintergrund halten - nicht, dass ich mich unwohl gefühlt hätte, aber es sind so viele (teils fremde) Eindrücke, ein anderes, unbekanntes Flair, eine noch nicht erlebte Aura: ich schwimme einfach mit, lasse mich treiben, hin und her gerissen von den Aktionen, die überall und ununterbrochen abgehen. 

Mit großen Augen, mit meiner Bundeswehr-fastGlatze (aber immerhin noch mit einem dicken Schnauzbart) und offenem Herzen sauge ich das alles in mich hinein. Es ist ein Bombardement für Auge, Hirn und Herz - Musik überall  - eine donnernde Achterbahnfahrt durch unbekanntes Terrain – ein Vergessen aller Konventionen – ein Happening für alle Sinne – ein Rausch unbekannten Ausmaßes. Auf mehreren Bühnen Musik, Lightshows tauchen die Halle in psychodelisches Licht, es riecht nach Shit und Gras, es ist rappelvoll in der Halle und vor der Halle und im Foyer unten, und alles wartet auf Zappa und die Mothers. Die kommen und spielen: ich verstehe  gar nix, die Musik ist auch nicht von der Art, die ich normalerweise höre, aber es reisst mich mit - vergleichbar mit einer Missionsveranstaltung von Billy Graham, aber eben auf einer ganz anderen Ebene. Im Foyer unten ist es wie auf einer  Messeveranstaltung für Hippies und Undergroundler mit einem Riesenangebot an Dingen, wie ich sie in dieser Art und Masse noch nicht gesehen hatte: Stände mit Postern, Tshirts, Stirnbänder, Zeitschriften, Bücher, Platten, Wasserpfeifen und Chillums, Ketten und Schmuck...
...und jede Menge Gleichgesinnte: WOOOOOOOOOOOW.

Ich bin alleine hingegangen, ich bin auch alleine irgendwann nachts nach Hause gelaufen – aber ich fühle mich nicht allein. Von 0 auf 100 an einem Tage, das hat rein gehauen, das sitzt. Und verbunden damit die tief greifende Erkenntnis, die sich in dieser Nacht festsetzt: ich bin nicht alleine – ich bin einer von ganz vielen. Wie viele andere, die ich an diesem Tag gesehen und gehört habe, komme ich zu der Erkenntnis: auch ich sollte meine Kreativität ausleben: Ich bin die Jugend / Wir sind die Jugend, Wir sind eine Macht, – ein jeder kann sein Ding durchziehen, kann sich verwirklichen, kann seinen eigenen Weg suchen und finden - als Teil einer neuen Generation. Es ist ein Weckruf und ein Bewusstwerden: ich habe die Möglichkeit, mich mit meinen Fähigkeiten, mit meiner Kreativität zu verwirklichen. Und auch das wird mir klar: dafür muss ich aktiv werden, ich muss mein Leben selbst in die Hand nehmen: nur zuschauen, genießen und alles toll finden wird mich nicht weiter bringen. 

Ich habe später einen Text geschrieben, der genau dieses Gefühl beschreibt und eigentlich seit den Songtagen in mir nachhallt: ... und ich erkenne mich, und ich erkenne meinen Sinn: ich komm, ich geh, ich war und ich bin.

Nur: bevor ich diesen Weg beschreiten und das Gesehene und Erlebte mit Leben erfüllen konnte, musste ich zunächst meinen Wehrdienst zu Ende bringen: das geschah dann zum Glück in der Kaserne Essen Kray (quasi "zuhause" als Stabssoldat im Kasino), und mit einem Jahr Verspätung - direkt nach der Ausmusterung - beziehe ich eine Penthousewohnung in der Viehofer Str. 15 in Essen. Es ist eine Dachgeschosswohnung in der 5. Etage - ohne Aufzug. Dort wohnt Bernhard Witthüser  schon, ich nun auch, und vier andere dazu. Bernd und ich haben uns inzwischen ausgesprochen (er lebt mittlerweile alleine - und "von einer Frau lassen wir uns nicht nocheinmal auseinanderbringen") kann jetzt die Saat der Songtage aufgehen: es folgt die Zeit in der 1. Essener Kommune. In dieser Zeit lerne ich u.a. alle die Macher der Songtage (R.U.Kaiser, Tom Schröder, Hendryk M. Broder, Reinhard Hippen) persönlich kennen - und 2 Jahre später spiele ich mit Bernd auf dem 3. Essener Pop- & Blues-Festival tatsächlich selber auf der Bühne in der Gruga Halle, auf der ich Zappa beim IEST  gesehen habe: damit schließt sich der Kreis...  

Mehr über Walter W. Mehr aus dem Online-Buch von Walter W.

Aus "68er nach Noten" - Kapitel 2: 1968
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